Die Prophezeiung der Schwestern - 1
verbannt werden. Ein Ort zwischen Leben und Tod. Ich glaube, das dunkle Ding wollte dich dorthin bringen. In den Abgrund.«
»Heißt das etwa, dass die Seele dort auf ewig gestrandet ist?« Meine Stimme ist nur noch ein Quietschen.
»Diejenigen, die in den Abgrund verbannt werden, sind auf ewig verloren, ja.« Ihre Augen wirken gehetzt. »Hör zu, Lia. Ich kenne nicht alle Gesetze der Anderswelten, verstehst du? Aber das dunkle Ding hatte es auf dich abgesehen,
und ich habe noch nie erlebt, dass etwas so Mächtiges sein Ziel nicht erreicht. Und doch …
Aus irgendeinem Grund konnte es nicht an dich herankommen. Ich habe keine Ahnung, was genau dich vor der vollen Wucht seiner Macht beschützt hat, aber du tätest gut daran, das Reisen vorläufig zu unterlassen, bis wir mehr wissen … oder bis du dir sicher sein kannst, dass du auch das nächste Mal denselben Schutz genießt.«
Stumm kehren wir zum Haus zurück. Als Birchwood vor uns auftaucht, legt Sonia mir die Hand auf den Arm und schaut nach oben. Ich folge ihrem Blick und sehe, dass Alice uns von einem der oberen Fenster aus beobachtet.
»Sei bitte vorsichtig, Lia«, warnt mich Sonia. »Sei vorsichtig, bis wir mehr herausgefunden haben.«
Meine Schwester ist zu weit weg, als dass ich ihr Gesicht erkennen könnte, aber trotzdem fühle ich kalte Finger aus Angst beim Anblick ihrer dunklen Gestalt im Fenster.
Sonia und ich gehen weiter zum Innenhof, und ich schaue ihr nach, wie sie mit der Droschke davonfährt. Erst als sie auf der mit Bäumen gesäumten Allee nicht mehr zu sehen ist, wende ich mich ab. Ich will jetzt nicht ins Haus gehen. Ich will nicht mit Alice über Sonia sprechen. Noch nicht.
Ich höre das Wasser rauschen, noch ehe ich das Flussufer erreiche. Der Regen letzte Woche hat den Fluss fast bis zum Überlaufen angefüllt und nun stürzt er in einer
wahnwitzigen Geschwindigkeit über den felsigen Grund. Ich lasse die Terrasse hinter mir und schlüpfe in den Schutz des Immergrüns, der Ahornbäume und Eichen. Es ist fast Mittag, und ich überlege, ob James wohl schon auf mich wartet.
»James?« Obwohl ich leise spreche, hallt meine Stimme von Felsen und Bäumen wider. »Bist du da, James?«
Starke Arme packen mich von hinten und heben mich hoch, sodass meine Füße den Kontakt zum Boden verlieren. Ein Schrei entschlüpft meiner Kehle, und ich trete blindlings um mich, um mich aus der stählernen Umklammerung zu befreien. Als ich die Fäuste hebe, um auf meinen unbekannten Angreifer einzuschlagen, werde ich herumgedreht und schaue ihm direkt ins Gesicht.
Warme Lippen legen sich auf meine und seine Hände lockern den Griff um meine Schultern, finden stattdessen den Weg in meine Locken, zu meinem Nacken.
Ich lasse mich in den Kuss fallen, fühle mich, als ob der Fluss selbst mich durchströmt, von den Haarspitzen bis zu den Fußsohlen.
Dann schiebe ich ihn von mir.
»Meine Güte, James!«, keuche ich. »Du hast mich zu Tode erschreckt!« Ich versetze ihm einen kindlichen und harmlosen Boxhieb auf die Schulter. »Jemand hätte uns sehen können!«
Er lacht und hält sich die Hand vor den Mund in dem Versuch, sich zu beherrschen. Sein Gesicht wird ernst, als er den Schreck in meinen Augen erkennt. »Bitte entschuldige,
Lia. Es tut mir leid. Wirklich. Aber wer sonst würde dich so packen?«
In seinen Augen liegt immer noch ein Hauch von Belustigung, und ich funkele ihn an, in der Hoffnung, ihn von dort zu vertreiben.
James kommt näher, schaut sich um und zieht mich eng an sich. »Ich wollte dich wirklich nicht erschrecken. Ich bin nur froh, dich zu sehen. Es ist so schwer, dir in Anwesenheit meines Vaters in der Bibliothek zu begegnen, auf der Straße mit Alice, überall - und das nicht tun zu dürfen.«
Noch näher zieht er mich und ich spüre die Ganzheit seines Körpers an meinem. Er raubt mir den Atem, und einen Augenblick lang gibt es keine Prophezeiung, kein Buch, kein Zeichen.
Nur James’ warmen Körper an meinem Leib.
Die Wirkung seiner Berührung ist mir peinlich. Ich will nicht, dass er fühlt, wie mein Herz gegen mein Mieder pocht oder wie mir der Atem stockt, und so löse ich mich von ihm und betrachte ihn neckisch.
»Du bist ziemlich dreist geworden«, sage ich scherzhaft.
Da lacht er, und die Vögel in den Bäumen über uns flattern hoch, aufgeschreckt durch den plötzlichen Überschwang. »Ich? Dreist? Und das sagt mir ausgerechnet eine junge Dame, die kürzlich die Tugend von Wycliffe zum Wanken gebracht
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