Die Prophezeiung der Schwestern - 1
ertragen, dass James mich so sieht. Noch nicht.
Das Zubettgehen ist nicht mehr so einfach wie früher. Ich liege da und versuche, meinen Geist in jenen leeren Zustand zu zwingen, der dem Schlaf vorausgeht.
Aber die Worte der Prophezeiung, der Schatten meiner Schwester im Fenster des oberen Stockwerks, das Zeichen, das mich als etwas kenntlich macht, das ich kaum begreife - all dies verschwört sich gegen mich und raubt mir die Ruhe. Schließlich stehe ich auf und gehe zu meinem Schreibtisch.
Wie kommt es, dass die Legende, die Sonia mir am See erzählte, dieselbe ist wie die in Vaters alterslosem Buch? Und warum trage ich fast das gleiche Zeichen wie Sonia, die eine Hellseherin ist? Ich fühle förmlich, wie die Fragen sich bemühen, einen Sinn zu ergeben, wie sie versuchen, sich zu etwas Solidem zusammenzufügen, etwas, das ich mit beiden Händen greifen und begreifen kann.
Ich öffne das Buch, nehme James’ Übersetzung heraus und lese die Prophezeiung, will in dem Sinnlosen einen Sinn erkennen. Ein kalter Schauer läuft mir über das Rückgrat, während ich wieder die Worte über die Schwestern lese. Doch erneut lässt mich die Prophezeiung ratlos zurück.
Wenn ich der Wächter bin und Alice das Tor, welche Rolle spielt Sonia in diesem merkwürdigen Spiel? Und was ist mit dem Engel? Wenn es mir nicht möglich ist, die Identität einer derart wichtigen Figur wie dem Engel herauszufinden,
wie kann ich dann meine Aufgabe als Wächter verstehen und erfüllen? Wie kann ich mich Alice - dem Tor - in den Weg stellen?
Erneut vergrabe ich mich in dem Buch, lese die Prophezeiung noch einmal, bis ich zu der Stelle komme, wo die Schlüssel erwähnt werden.
Wenn das Tor des Engels sich ohne Schlüssel öffnet, folgen die Sieben Plagen, und es gibt kein Zurück.
Wieder und wieder lese ich die Zeilen, nehme all meine Willenskraft zusammen, um die Antwort zu finden. Selbst in meinem augenblicklichen Zustand der Ahnungslosigkeit ist mir eins klar: Ohne die Schlüssel wird etwas Entsetzliches geschehen. Etwas, das nie mehr ungeschehen gemacht werden kann.
Wenn Alice und ich auf den entgegengesetzten Seiten der Prophezeiung stehen, dürfen ihr die Schlüssel nie in die Hände fallen. Was bedeutet, dass ich sie finden muss.
Und zwar vor meiner Schwester.
9
A m nächsten Tag auf dem Weg zur Schule erwähnt Alice Sonias Besuch mit keinem Wort. Ich bin meiner Schwester aus dem Weg gegangen, weil ich mich nicht mit ihren Fragen beschäftigen wollte. Ich vermute, dass die Gnadenfrist nun vorbei ist, und wappne mich für das gefürchtete Gespräch. Aber Alice bleibt stumm. Es ist so, als wüsste sie bereits alles. Und das Wissen, das sie besitzt, will sie für sich behalten.
Unsere Rückkehr in die Schule ist alles andere als glorreich. Victoria, die Alice vermutlich die Schuld an dem Missgeschick gibt oder wütend darüber ist, dass Alice und ich nach unserem verbotenen Ausflug straflos davonkamen, begrüßt uns, gemeinsam mit ihren Freundinnen, mit eisigen Blicken. Nur Luisa scheint sich zu freuen, uns zu sehen, mich insbesondere.
Sie setzte sich auf den Platz neben mir, als ob sie schon immer dort gesessen hätte, und während des Frühstücks neigt sie mir den Kopf zu und fragt: »Geht’s dir gut?«
Ich nicke. »Aber … ach, Luisa! Es tut mir so leid. Hast du großen Ärger bekommen?«
Sie lächelt. »Es geht, aber das macht die Sache bloß interessanter. Ich bereue nichts!«
Nach dem Frühstück verbringen wir den Vormittag mit Unterweisungen in Musik, Literatur und Fremdsprachen. Der Tag vergeht in einem Nebel aus geflüsterten Andeutungen und hinterhältigem Gelächter. Als wir für unsere letzte Unterrichtsstunde - Landschaftsmalerei - nach draußen gehen, fällt mir erneut auf, wie still Alice ist, wie sie den Kopf ein Stück zu hoch trägt, den Rücken zu gerade hält. Sie weicht meinem Blick aus. In Alices Augen ist Einsamkeit dem Mitleid vorzuziehen.
Im Innenhof stehen die Staffeleien direkt vor unserem bescheidenen Gärtchen, das im aufziehenden Winter schon fast erstorben ist. Obwohl die Sonne scheint, ist die Luft beißend kalt, und mir wird klar, dass dies wohl der letzte Unterricht ist, den wir in diesem Jahr im Freien verbringen.
»Lia! Hier drüben!«, ruft Luisa. Ihr Atem steht in kleinen Wölkchen vor ihrem Mund und sie winkt mich zu einer Staffelei vor der Backsteinmauer.
Ich gehe zu ihr, dankbar und wieder einmal überrascht über ihre freimütige und selbstlose
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