Die Prophezeiung der Schwestern - 1
die Dunkelheit über den Himmel senkt. Edmund steht noch nicht einmal an der Tür, als Alice wie ein gefangenes Tier hinausstürzt, sich vom Haus abwendet und eilig auf den Weg zugeht, der zum See führt. Ich halte sie nicht zurück. Nach all dem, was geschehen ist, was immer noch geschieht, spüre ich doch ganz deutlich den Schmerz, den ihr die Demütigungen der selbst ernannten Hoheiten von Wycliffe zugefügt haben. Es ist, als würde man zuschauen, wie eins von Vaters herrlichen Vollblütern zugeritten wird. Es ist gut und schön, dass ein Pferd geritten und beherrscht wird, aber ich kann nicht umhin, bei dem Gedanken, dass ein so wundervolles Geschöpf gebrochen wird, Trauer zu empfinden.
Ich bin schon auf halbem Weg die Treppe hinauf, als mich Tante Virginia aus dem Foyer ruft.
»Lia?«
Ich drehe mich zu ihr um. »Ja?« Sie steht am Fuß der Treppe und schaut mit einem angespannten Gesichtsausdruck zu mir hoch.
»Ist irgendetwas geschehen?« Kleine Falten bilden sich in ihren Augenwinkeln, während sie aufmerksam mein Gesicht betrachtet.
Ich zögere und frage mich, worauf sie hinauswill. »Nein, gar nichts. Warum fragst du?«
Sie zuckt mit den schmalen Schultern. »Du wirkst so, als würde dich etwas bedrücken. Und auch Alice scheint … irgendwie abwesend.«
Ich lächle, um ihre Sorge zu vertreiben. »Du weißt doch - Mädchen in unserem Alter, wohlhabende, gelangweilte Mädchen … Wir sind nicht immer freundlich und ausgelassen.«
Ihr eigenes Lächeln ist gequält und traurig. »Ja. Das weiß ich wohl.«
»Alice wird wieder zu sich kommen. Sie ist nur müde und traurig, wie wir alle.«
Sie nickt. Ich glaube schon, dass ich davongekommen bin, als sie mich erneut anspricht.
»Lia? Versprich mir, dass du zu mir kommst, wenn du etwas brauchst. Wenn es irgendetwas gibt, wobei ich dir helfen kann.«
Ich bin mir ziemlich sicher, dass an der Sache mehr dran ist als das, was ihre Worte besagen, eine Art Botschaft, die ich noch nicht entziffern kann. Einen kurzen, verrückten Augenblick bin ich versucht, ihr alles zu erzählen. Ich will sie fragen, wie ich meine Rolle als Wächter erfüllen kann, wie jemand, der so ahnungslos und verwirrt ist wie ich, es schaffen soll, die Welt vor etwas zu beschützen, das ich nicht einmal ansatzweise verstehe.
Aber am Ende sage ich nichts dergleichen. Denn wenn ich der Wächter bin und Alice das Tor, wer ist dann Tante Virginia? Welche Rolle spielte sie in der Vergangenheit der Prophezeiung?
Stattdessen lächle ich. »Ja. Danke, Tante Virginia.«
Und dann gehe ich die Treppe hinauf, ehe sie noch etwas sagen kann.
In meinem Zimmer prasselt das Feuer im Kamin und ich setze mich an meinen Schreibtisch und denke über meine Möglichkeiten nach. Ich starre auf das Buch. Das Buch ohne Ursprung, ohne Hinweise, ohne Herkunft.
Ein Buch, so alt wie die Zeit.
James’ Notizen lugen hinter der dünnen Seite hervor, auf der die Prophezeiung geschrieben steht. Diese eine Seite ist alles, was vom Buch des Chaos übrig geblieben ist. Ich will dieses Rätsel allein lösen, ohne jemand anderen mit hineinzuziehen, aber ich bin mit meinem Verständnis der Worte und Zeilen in einer Sackgasse gelandet.
Manchmal muss man um Hilfe bitten, auch wenn man es nicht möchte.
Und so nehme ich eine Schreibfeder und das Tintenfass aus der Schublade, ziehe zwei Bögen des dicken Briefpapiers zu mir. Dann fange ich an zu schreiben.
Liebe Miss Sorrensen,
Miss Lia Milthorpe bittet um das Vergnügen Ihrer Gesellschaft zum Tee …
Nachdem ich die Einladungen an Sonia und Luisa geschrieben habe, habe ich das Verlangen, dem Bann des Buches eine Weile zu entkommen, und so entschließe ich mich, den Abend mit Henry beim Spiel zu verbringen.
Seine Augen sind immer noch vor Trauer verschleiert, und um die Wahrheit zu sagen, könnte auch ich ein wenig Ablenkung von all den Fragen vertragen, die auf eine Antwort warten. Sie werden mir nicht weglaufen, egal wie ich mir die Zeit vertreibe.
Auf dem Weg zum Wohnzimmer komme ich an den Glastüren des Wintergartens vorbei. Dort erregt eine Gestalt meine Aufmerksamkeit. Es ist Alice, die mit Ari auf dem Schoß in einem großen Korbsessel vor dem Fenster sitzt. Obwohl ich in der warmen Halle stehe, erkenne ich deutlich, wie eiskalt es im Wintergarten ist. Sternförmig hat sich der Frost auf den Glasscheiben abgesetzt, und doch sitzt Alice nur mit einer Decke über den Schultern in der Dunkelheit und starrt aus dem Fenster, als ob sie sich in einem gemütlich
Weitere Kostenlose Bücher