Die Prophezeiung der Schwestern - 1
auf, als er außer Hörweite ist.
Ich nehme meinen Pinsel zur Hand und beuge mich zu
Luisa, während ich willkürliche Striche auf meine Leinwand male. »Woher hast du das, Luisa? Du musst es mir sagen!«
Sie versteift sich und taucht ihren Pinsel wieder in die grüne Farbe. »Ich weiß nicht, was dich das kümmert. Es ist nichts. Wirklich!«
Ich seufze und denke kurz nach. Wir haben nicht viel Zeit. Mr Bell steht gerade bei den Mädchen am anderen Ende der Reihe, vertieft in die Betrachtung der talentierteren Bemühungen. Ich lege den Pinsel auf die Ablage der Staffelei, verstecke die Hand in den Falten meines Rockes und rolle meinen Ärmel hoch. Mit leiser Stimme wende ich mich zu Luisa.
»Es gibt einen sehr guten Grund, warum mich das kümmert, Luisa.« Als mein Handgelenk so weit freiliegt, dass das Medaillon zum Vorschein kommt, schiebe ich auch das zur Seite und drehe meine Handfläche nach oben, damit sie es sehen kann. »Schau, auch ich habe eins. Und es ist fast identisch mit deinem.«
Lange starrt sie auf mein Handgelenk, den Pinsel bewegungslos in der Hand. Ob es an der verstörten Stille liegt, die uns beide einhüllt, oder daran, dass die Zeit einfach dahinfliegt - der Unterricht ist jedenfalls bald darauf vorbei, und wir haben keine Gelegenheit, unter vier Augen miteinander zu reden. Stattdessen räumen wir Farben und Pinsel weg und tragen unsere Leinwände inmitten des Stroms aus Mädchen wieder in den Kunstraum. Luisas Augen folgen mir, während ich aufräume, aber ich brauche
Zeit, um nachzudenken, um herauszufinden, was das alles bedeutet. Deshalb bin ich dankbar für das erzwungene Schweigen.
Wir waschen gerade die Pinsel in einer Schüssel mit Wasser aus, als sie endlich spricht: »Ich begreife das nicht, Lia. Wie kann das sein?«
Ich halte meine Augen auf das Wasser geheftet, das schmutzig braun ist vor ausgewaschener Farbe. »Ich weiß nicht. Etwas geschieht, aber ich verstehe es nicht, genauso wenig wie du. Noch nicht.«
Sie schüttelt den Kopf und einzelne Locken ihres schwarzen Haars lösen sich aus der Frisur an ihrem Nacken. »Warum sollten wir beide es haben?«, fragt sie flüsternd. »Wir haben früher doch kaum miteinander gesprochen, das Zeichen aber habe ich schon mein Leben lang.«
Ich schaue ihr in die Augen. Der Geruch nach Farbe und Terpentin ist überwältigend. »Ich weiß es wirklich nicht, Luisa. Nur … Bitte, gib mir etwas Zeit, mir über einige Dinge klar zu werden, ja?«
»Oh, ich wünschte, es wäre nicht Donnerstag! Jetzt muss ich das ganze Wochenende lang warten und grübeln!« Sie kann ihre Ungeduld kaum unterdrücken, fährt fast aus der Haut und spannt ihren Körper so stark an, dass die Muskelstränge hervortreten, wie bei den anatomischen Zeichnungen in Vaters Büchern über Medizin.
Ich drücke das Wasser aus den Pinseln und stelle sie in einen Zinnbecher neben die Waschschüssel, damit sie
trocknen können. Dann wende ich mich wieder zu ihr. »Warte auf Nachricht von mir. Ich werde mich mit dir in Verbindung setzen.«
Alice wahrt ihre aufrechte Haltung, bis Edmund die Kutschentür schließt. Aber als wir allein im Halbdunkel des frühwinterlichen Nachmittags sitzen, sinkt sie in sich zusammen. Ihre Schultern sacken herab und auf ihrem Gesicht macht sich Resignation breit.
Ich lege meine Hand auf ihre. »Alles in Ordnung?«
Sie nickt und zieht gleichzeitig rasch ihre Hand unter meiner weg, ohne mir in die Augen zu schauen. In dem Moment, bevor sie die Hand in den Schoß legt, wird mein Blick von der weichen Haut auf ihrem Handgelenk angezogen. Es ist so, wie ich erwartet habe. Die Haut dort ist makellos. Ich bin die einzige gebrandmarkte Schwester.
Sie wendet sich von mir ab und starrt schmollend aus dem Fenster. Ich bin dankbar für ihr Schweigen. Ich habe weder die Kraft noch die Neigung, sie zu trösten.
Ich seufze tief und lasse mich gegen das weiche Rückenpolster fallen. Als ich den Kopf zurücklehne und die Augen schließe, sehe ich wieder Luisas Zeichen vor mir. Oder Sonias. Oder meins.
Es ist unvorstellbar, dass wir alle drei das Zeichen haben, fast völlig identisch, und noch dazu in derselben Stadt. Und doch kann etwas so Düsteres und gleichzeitig so sorgfältig Geplantes nicht sinnlos sein. Der Glaube daran, dass es einen Grund für diese Tatsache gibt, ist die
einzige Möglichkeit, dem Ganzen überhaupt einen Sinn zu verleihen.
Alice und ich verbringen die Heimfahrt wortlos. Im Innenhof bleibt die Kutsche stehen, gerade als sich
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