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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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beheizten Raum befände. Sie streichelt die Katze mit rhythmischen Bewegungen, die denen gleichen, mit denen sie mein Haar gebürstet hat. Sogar von hier aus kann ich den leeren Ausdruck ihrer Augen erkennen.
    Ich will mich gerade zu erkennen geben, will die Glastür öffnen und den gefliesten Wintergarten betreten, als mir etwas auffällt, das mich erstarren lässt. Es ist Ari, der knurrt und versucht, sich von Alices Schoß zu erheben. Die Lehne des Korbsessels verdeckt mir teilweise die Sicht auf die Katze, und ich recke mich, um besser sehen zu können. Als ich einen Blickwinkel finde, der mich die ganze Szene überschauen lässt, überkommt mich Ekel und Abscheu über das, was Alice tut.

    Alice hält die Katze fest. Sie streichelt sie nicht, kost sie nicht wie eben noch. Nein. Sie hält kleine Fellbüschel mitsamt der Haut mit den Händen gepackt und dreht sie, dreht sie, bis die Katze vor Schmerz faucht und versucht, sich ihrem Griff zu entwinden. Aber es ist Alices Gesicht, das mich am meisten erschreckt. Es bleibt gleichgültig, behält diesen leeren Ausdruck, als ob sie gerade über das Wetter nachdenkt. Sie muss die Katze in einer eisernen Umklammerung halten. Ari schafft es nicht, sich zu befreien, egal wie sehr er sich auch windet und um sich tritt.
    Ich würde gerne behaupten, dass ich dem sofort Einhalt gebiete, aber ich bin so schockiert, dass ich nicht sagen kann, wie viele Sekunden vergehen, ehe ich endlich handele. Dann stoße ich die Tür auf, und sie lässt Ari los, ohne dass ich die leiseste Veränderung in ihrem Gesicht bemerke. Er springt von ihrem Schoß, schüttelt sich und rast in einer Geschwindigkeit davon, die ich nicht mehr bei ihm gesehen habe, seit er ein kleines Kätzchen war.
    »Oh, Lia. Was machst du hier?« Sie dreht sich zu mir um, als ich eintrete, aber sie wirkt weder verlegen noch beschämt.
    »Ich wollte dich fragen, ob du mit mir und Henry im Wohnzimmer Karten spielen möchtest.« Meine Stimme ist rau, und ich muss mich räuspern, ehe ich fortfahren kann. »Was hast du da eben gemacht?«
    »Hmmm?« Sie starrt schon wieder aus dem Fenster.
    Ich spreche ein wenig lauter. »Gerade eben. Mit Ari.«

    Sie schüttelt ganz leicht den Kopf. »Nichts. Gar nichts.«
    Ich überlege, ob ich auf einer Antwort bestehen soll, ob ich sie zwingen soll, ihr Verhalten zu erklären, aber was würde das nützen? Ich sah sie. Ich weiß, was sie getan hat. Sie braucht mir nichts zu sagen.
    Und obwohl die Szene vielleicht kaum einen weiteren Gedanken wert ist, birgt sie eine Vorstellung, die mich mit Angst erfüllt. Denn während ich niemals bestritten habe, dass Alice leichtsinnig ist, selbstsüchtig, sogar gehässig, wäre mir bis eben nie in den Sinn gekommen, dass sie auch grausam sein könnte.

10
     
     
     
     
    H enry und ich spielen ein Kartenspiel nach dem anderen, und wir können sogar die Köchin überreden, uns Popcorn und heiße Schokolade zu machen, zwei von Henrys liebsten Näschereien. Nach etlichen Stunden wenden wir uns dem Schachbrett zu. Henry schlägt mich ein ums andere Mal, war er doch jahrelang ein aufmerksamer Beobachter von Vaters meist siegreicher Strategie. Wir beide lachen, aber es ist nicht mehr das unbeschwerte Gelächter früherer Tage. Jetzt liegt ein Unterton von Trauer darin, meinerseits noch dazu verbunden mit Angst. Ich will mich in der Schlichtheit der Stunden verlieren, die ich mit meinem jüngeren Bruder verbringe, aber wenn ich in das Feuer starre und darauf warte, dass Henry seinen Zug macht, ist es Alices leeres Gesicht, das ich vor mir sehe.
    »Lia?« Henrys Stimme durchbricht meine Gedanken.
    Ich schaue auf. »Ja?«
    »Du solltest vorsichtig sein.«

    Die Worte jagen mir einen Schauer über den Nacken, aber ich zwinge mich zu einem Lachen. »Was um Himmels willen meinst du denn damit?«
    Er schaut weg, starrt eine Weile ins Feuer, ehe er den Blick wieder mir zuwendet. »Vater hat mir oft gesagt, dass die Dinge nicht immer sind, was sie zu sein scheinen.«
    »Henry.« Ich begegne seiner Ernsthaftigkeit mit einem sanften Lächeln. Ich will nicht herablassend erscheinen, wo ihm doch seine kryptische Botschaft augenscheinlich so viel bedeutet. »Worauf genau willst du hinaus?«
    »Nur …« Er holt tief Atem, als ob er allen Mut zusammennehmen müsste, aber am Ende stößt er die Luft in einem resignierten Seufzen wieder aus. »Ich weiß es nicht, Lia.« Er lächelt, aber es ist nur ein Schatten seines früheren Lächelns. »Versprich mir, dass du

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