Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Birchwood ist immerhin mein Zuhause. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, Alice in meine Pläne einzuweihen, obwohl es kaum
vorstellbar ist, dass sie nicht Bescheid weiß, angesichts der erhöhten Aktivität der Dienstboten. Aber sie lässt sich nicht blicken, wofür ich dankbar bin, sei es nun, dass es aus Unwissenheit geschieht oder dass sie unsere Gesellschaft meidet.
Tante Virginia und ich stellen uns am Ende der Zufahrt auf, wo die Kutsche mit einem Knirschen auf dem Kies zum Stillstand kommt. Edmund öffnet die Tür und streckt die Hand aus, um seinen Passagieren beim Aussteigen zu helfen. Eine behandschuhte Hand erscheint, und ich weiß, dass es Sonia ist. Nur sie hat derart zarte, kindliche Finger. Mit einem unsicheren Blick in den Augen tritt sie aus der Kutsche.
»Sonia! Ich freue mich, dass du kommen konntest!« Ich gehe auf sie zu und nehme ihre Hand.
Sie lächelt und schaut von mir zu Tante Virginia. »Danke für die Einladung.« Ihr Gesicht ist unergründlich, aber ich erkenne, dass sie ihre Worte sorgfältig wählt, wohl aus Angst, einen schlechten Eindruck zu machen.
Ich wende mich Tante Virginia zu und stelle die beiden einander vor. Tante Virginia lächelt freundlich. »Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Sorrensen.«
Luisa ignoriert Edmunds Hand und hüpft behände aus der Kutsche. Ihr strahlendes Lächeln umfasst uns alle mit einem einzigen Blick. »Oh, vielen Dank, dass du mich eingeladen hast, Lia!« Sie hüllt mich in eine eilige Umarmung. Ihre Wangen glühen wie reife Aprikosen vor ihrem
dunklen Haar. »Mich hat noch nie jemand zum Tee eingeladen. Jedenfalls nicht, seit ich in Wycliffe bin. Du hättest die Gesichter der anderen Mädchen sehen sollen, als die Einladung eintraf!«
Sie holt kaum Atem, und ich lege ihr die Hand auf den Arm, damit ich auch sie vorstellen kann. »Tante Virginia, das ist Luisa Torelli. Luisa, darf ich vorstellen: Virginia Spencer.«
»Es ist mir ein Vergnügen, Miss Torelli.« Tante Virginias grüne Augen glitzern.
»Oh ja! Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Miss … Ähm, Mrs Spencer.« Ich unterdrücke ein Lächeln, als Luisa über den Familienstand meiner Tante ins Stolpern gerät.
»Sie hatten gleich beim ersten Mal recht, Miss Torelli. Ich war nie verheiratet.«
»Oh, das ist aber sehr kühn von Ihnen, Miss Spencer«, haucht Luisa. »Ich bewundere die unabhängigen Frauen von heute.«
Luisa plappert, als hätte sie alle Zeit der Welt. Ich muss sie irgendwie zum Schweigen bringen, ansonsten stehen wir den ganzen Nachmittag lang hier vor dem Haus. »Wollen wir nicht hineingehen? Im Wohnzimmer brennt ein gemütliches Feuer und der Tisch ist gedeckt.«
Ich hake mich mit einem Arm bei Luisa unter und mit dem anderen bei Sonia. Zunächst werden wir gemütlich Tee trinken. Und dann werden wir versuchen herauszufinden, welch dunkles Band uns miteinander verbindet.
»Ich kann es nicht glauben.« Luisa war sprachlos. Nun, beinahe jedenfalls. »Und wenn man bedenkt, dass ich die ganze Zeit dachte, ich sei die Einzige.«
»Genau wie ich.« Sonias Stimme war nur ein Flüstern. »Nun, und dann noch Lia, nachdem ich sie gefunden hatte.« Sie kann ihre Augen nicht von unseren Handgelenken abwenden, die wir vor dem Strohballen, auf dem wir sitzen, ausgestreckt haben. Die Zeichen, alle drei, sind der Beweis dafür, dass das, was immer auch am Werk sein mag, in uns allen wirkt.
Ich habe sie in die Ställe gebracht, weil ich hoffte, hier ungestört mit ihnen reden zu können, fernab von den spähenden Augen und lauschenden Ohren im Haus. Es ist schon spät und die Stallburschen sind alle nach Hause gegangen. Einzig die Pferde, die von Zeit zu Zeit leise schnauben, und der süße Duft des Heus leisten uns Gesellschaft.
Ich entspanne meinen Arm und ziehe ihn wieder an den Körper. »Es lässt sich nicht leugnen. Jetzt nicht mehr. Was immer das bedeuten mag, wir müssen es gemeinsam herausfinden.«
Sonia blinzelt. »Aber … wie? Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß, Lia. Ich habe nichts verschwiegen.«
»Was? Was weißt du?« Luisa verengt die Augen und schaut uns an.
Ich seufze, stehe auf und gehe zu dem weichen Lederbeutel, der an einem Haken an der Stallwand hängt. Ich greife hinein, ziehe eine Handvoll trockenen, knisternden Hafer hervor und schlendere zur ersten Pferdebox.
»Sonia hat mir eine Geschichte erzählt, besser gesagt: eine Legende, in der Zwillingsschwestern und Engel vorkommen, die …«
Luisa steht ebenfalls auf
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