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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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vorsichtig bist, ja?«
    Ich nicke langsam und versuche, die Botschaft in seinen Worten zu entschlüsseln. »Natürlich.«
    Wir spielen noch zwanzig Minuten lang Schach, aber unsere Züge sind halbherzig. Henry gähnt, als wir schließlich die Figuren einpacken, und Tante Virginia kommt, um ihn ins Bett zu bringen.
    Als Henry mir eine gute Nacht wünscht, sind seine Augen dunkel vor Sorge und etwas anderem, das ich nicht genau einordnen kann. Aber ich glaube, es ist eine Art Angst. »Danke, Lia. Ich danke dir von Herzen.«
    »Gern geschehen. Ich werde dich mit Vergnügen jederzeit wieder schlagen«, necke ich ihn in der Hoffnung, seine
düstere Laune zu vertreiben. Ich beuge mich vor und küsse ihn auf die weiche Wange. »Gute Nacht. Schlaf gut.«
    »Schlaf gut, Lia.«
    Tante Virginia dreht Henrys Stuhl um und wendet sich mir im Vorbeigehen zu. Sie lächelt einen stummen Dank. Ihr Lächeln ist warm und ein wenig melancholisch, will mir scheinen. »Gute Nacht, Lia. Schlaf schön.«
    »Gute Nacht, Tante Virginia.«
    Ich stehe in dem leeren, stillen Raum. Dann gehe ich zu dem großen Fenster und starre in die schwarze Nacht hinaus, wie Alice es tat, und frage mich, was sie in der Leere jenseits der Fenster des Wintergartens sah. Ich schaue und schaue, während das Knistern des Feuers das einzige Geräusch ist. Aber ich sehe nichts. Weder den wundervollen Himmel meiner Träume, noch die Antworten, die ich brauche.
    Nur Dunkelheit.
     
    Später, als ich die Treppe hinaufsteige, höre ich ein Geräusch aus der Bibliothek kommen. Es ist ein Schaben, als ob Gegenstände hin und her bewegt würden, und ich drehe mich auf den mit Teppich ausgelegten Stufen um und gehe darauf zu.
    Als ich vor der geöffneten Tür zur Bibliothek stehe, sehe ich Alice, die sich gebückt hat und Bücher aus den Regalen zieht. Ich schaue ihr eine Weile zu und frage mich, warum ich unruhig werde, wo doch die Bücher in der Bibliothek Alice genauso gehören wie mir. Vermutlich ist es, weil sie
sich früher nie für Vaters Sammlung interessierte und er den Versuch, seine Leidenschaft für Bücher mit Alice zu teilen, schon vor langer Zeit aufgab.
    Sie muss gefühlt haben, dass ich da stehe, denn sie dreht sich um, ehe ich etwas sagen kann. Rote Flecken erblühen auf ihren Wangen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich Alice das letzte Mal erröten sah.
    »Oh! Lia! Was machst du hier?« Sie richtet sich auf, streicht sich den Rock glatt und schiebt die gelösten Haarsträhnen hinter die Ohren.
    »Ich sah die Tür offen stehen. Suchst du etwas?«
    Eine Maske aus Ruhe fällt über ihre Miene. »Etwas zum Lesen. Als Abendlektüre.« Sie wedelt mit der Hand in Richtung der Regale, als ob sie sie entlassen würde. »Ich schlafe in letzter Zeit nicht besonders gut.«
    »Ja, ich weiß, was du meinst.« Ich nicke zu den Regalen. »Du musst nur fragen, wenn ich dir ein Buch empfehlen soll.«
    Sie schaut mich an und ihr Gesicht wird zu Stein. »Das werde ich. Das heißt, wenn ich nicht selbst etwas Passendes finde.«
    Wir stehen da und starren einander an. Es ist unübersehbar, dass sie nicht die Absicht hat, die Bibliothek zu verlassen, und ich habe nicht das Recht, sie hinauszuweisen.
    »Gute Nacht, Alice.« Es fällt mir nicht leicht, mich abzuwenden, aber ich tue es trotzdem und lasse sie in dem Heiligtum zurück, in dem ich so viel Zeit mit meinem Vater verbracht habe.

    Ich gehe wieder zur Treppe, während eine Mischung aus Zorn und Angst durch meine Adern strömt. Ich weiß nicht, warum ich Alice die Existenz des Buches verschweigen will, aber ich bin plötzlich sehr, sehr froh, dass es gut in meinem Schrank versteckt ist.

11
     
     
     
     
    I wei Tage später schaue ich aus dem großen Fenster im Wohnzimmer auf die Kutsche, die um die Kurve der Einfahrt biegt. Trotz des ungewöhnlichen Anlasses für meine Einladung an Luisa und Sonia erregt mich die Aussicht auf ihre Gesellschaft. Das Kind in mir würde am liebsten die Stufen hinunterrennen und die Tür zur Kutsche aufreißen. Stattdessen zwinge ich mich, langsam und gemessen aufzustehen, die Falten in meinem Rock zu glätten und mit verhaltenen Schritten ins Foyer zu schreiten. Tante Virginia schaut von ihrem Nähzeug auf und legt die Nadel weg, um mich die Treppe hinunterzubegleiten.
    Ich habe noch nie jemanden zum Tee eingeladen. Tante Virginia war verständlicherweise überrascht, als ich ihr von meinem Vorhaben erzählte, zwei Klassenkameradinnen zu mir zu bitten, aber sie hatte nichts dagegen.

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