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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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Freundschaft.
    »Ich habe dir eine Staffelei freigehalten.« Sie deutet zu ihrer Linken, lächelt mich von ihrem Stuhl aus an und wedelt mit dem Pinsel in der Luft herum.
    »Danke. Was für einen Gegenstand soll ich heute bis zur
Unkenntlichkeit verstümmeln?« Ich bin nicht gerade berühmt für mein künstlerisches Talent.
    Luisa lacht. Es ist nicht das höfliche Kichern, das man gemeinhin von den Mädchen in Wycliffe zu hören bekommt, sondern ein fröhliches Gelächter aus voller Kehle. »Ich weiß nicht. Vielleicht solltest du dir etwas aussuchen, das schon tot ist. Dann macht es nichts mehr.« Ihre Augen huschen zu Mr Bell, unserem Kunstlehrer, der vor uns auf dem Steinpfad steht, welcher sich durch das Gärtchen windet.
    Mr Bell ist nicht gerade attraktiv. Sein Gesicht ist etwas zu lang und zu schmal und das Haar ist sorgfältig gekämmt, um die kahl werdenden Stellen zu verbergen. Aber sonst ist er ganz in Ordnung. Es ist nicht sein Aussehen, sondern die Tatsache, dass er Junggeselle ist, die Anlass zu mancherlei Spekulationen unter den Mädchen von Wycliffe gibt. Die Schülerinnen hier, besonders diejenigen, die in Wycliffe leben, werden sorgfältig von jeglicher Art Mann abgeschirmt. Und so ist jedes männliche Exemplar im heiratsfähigen Alter, das noch nicht im Hafen der Ehe gelandet ist, ein hochinteressantes Gesprächsthema, auch wenn der Gegenstand dieser Diskussion schon bald eine Glatze haben wird.
    »Meine Damen. Wie Sie wissen, liegt der Herbst bald hinter uns. Heute werden Sie sich einen Künstler aussuchen, den wir bereits im Unterricht behandelt haben. Mit diesem Künstler als Leitbild wollen Sie bitte eine Szene des Gartens malen, die Sie frei wählen können. Gemessen
an der Kälte bleiben uns wohl nur noch wenige Tage, also arbeiten Sie bitte schnell und konzentriert. Das ist alles.«
    Luisa ist bereits ganz in der Arbeit gefangen. Auf ihrer Leinwand nehmen die Farben Gestalt an. Ich betrachte den ersterbenden Garten auf der Suche nach etwas, das meinen erbärmlichen Bemühungen würdig ist. Alles, was zu dynamisch oder zu kompliziert ist, verwerfe ich auf der Stelle. Dann entdecke ich eine spitze Blume aus Purpur, so dunkel wie eine Pflaume. Die Pflanze ist einfach, ohne Schnörkel. Sogar ich müsste in der Lage sein, sie auf die Leinwand zu bringen. Also los , denke ich.
    Ich bin entschlossen, mir das Äußerste abzuverlangen, als mir etwas ins Auge fällt. Es ist Luisa, deren Hand über der Staffelei schwebt. Die Pinselspitze streicht über einen jungfräulichen Fleck Leinwand.
    Aber es ist nicht Luisa selbst. Es ist ihre Hand, ihr Handgelenk, das unter dem Stoff ihres roten Samtmantels hervorlugt und unter dem Silberarmband, das nur spärlich ihre weiße Haut bedeckt.
    Und da ist das Zeichen. Sonias Zeichen. Mein Zeichen.
    Es ist nur schwach sichtbar, nicht mehr als eine Ahnung, aber ich würde es überall erkennen.
    »Was ist denn los? Lia? Lia, was ist?« Von Luisas Pinselspitze tropft smaragdgrüne Farbe und ihre Augen blicken besorgt.
    »Dein … Das … Woher hast du das?« Ich kann meine Augen nicht von ihrem schlanken Handgelenk abwenden.
    Sie folgt meinem Blick, schaut auf ihre Hand, und dann
weiten sich ihre Augen erschreckt. Der Pinsel fällt klappernd zu Boden, während sie den Ärmel ihres Mantels weit nach unten zieht.
    »Es ist nichts. Nur eine Narbe.« Sie bückt sich und hebt den Pinsel auf, der unter die Staffelei gerollt ist. Ihr Gesicht ist weiß.
    »Ich glaube nicht …« Aber weiter komme ich nicht. Plötzlich steht Mr Bell hinter uns.
    »Miss Milthorpe. Luisa. Gibt es ein Problem?« Er betrachtet kritisch unsere Leinwände und würdigt uns selbst mit keinem Blick. Obwohl mir unzählige Fragen durch den Kopf hämmern, ärgere ich mich darüber, dass er Luisa mit ihrem Vornamen anspricht und das respektvolle »Miss« für mich reserviert.
    »Nein, Mr Bell, gar nicht. Aber ich bin heute furchtbar ungeschickt, das ist alles. Ich habe meinen Pinsel fallen gelassen, aber da ist er wieder.« Luisa schwenkt den Pinsel vor ihm hin und her, als ob sie ihre Aussage beweisen müsste.
    »Ja, alles ist in bester Ordnung, Mr Bell. Miss Torelli und ich arbeiten mit äußerster Konzentration.«
    »Das sehe ich.« Er schaukelt leicht auf den Fersen hin und her und denkt wohl darüber nach, wie er angesichts der Tatsache, dass mein Vater ein großer Wohltäter der Schule war, mit meinem sanften, aber unüberhörbaren Tadel umgehen soll. »Dann machen Sie weiter so.«
    Wir beide atmen

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