Die Prophezeiung der Schwestern - 1
und geht zum Futterbeutel. »Die Geschichte von Maari und Katla? Von den Wächtern?« Sie stellt diese Frage, als sei es das Normalste auf der Welt.
In meiner Verblüffung wende ich mich von dem Rappen vor mir ab. Er stupst mich an der Schulter an und geistesabwesend öffne ich die Hand. »Du hast davon gehört?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Meine Großmutter hat mir die Geschichte immer erzählt, als ich noch klein war. Aber was hat das mit uns zu tun? Mit dem Zeichen?« Sie geht zur Box neben mir und streckt, ohne zu zögern, die Hand durch die Öffnung.
Ich wische mir die Hände an meinem Rock ab, greife in meinen Beutel und ziehe das Buch hervor, das Luisa sofort interessiert betrachtet. Sonia hat sich nicht vom Fleck gerührt. Sie sitzt noch immer auf dem Strohballen und beäugt uns, als ob sie uns warnen würde, bloß nicht von ihr zu verlangen, sich diesen riesigen, stampfenden Kreaturen zu nähern. Ich setze mich neben sie, lege das Buch in meinen Schoß und falte die Hände darüber. Noch ist die Zeit nicht gekommen. Erst müssen wir einen gemeinsamen Anfang finden.
Ich wende mich zu Luisa. »Erzähl uns, was du über die Schwestern weißt.«
Ihre Augen richten sich fragend auf mich. Und dann spricht sie. Erst zögernd, mit der Zeit jedoch immer ausführlicher, während sie die Geschichte aus den weichen, verschwommenen Erinnerungen ihrer Kindheit hervorholt. Als sie endet, schweigen wir.
Ich fahre mit den Fingern über den Einband des Buches. Luisas Worte klingen mir noch in den Ohren. Es waren ähnliche Worte wie die, die Sonia auf der Klippe oberhalb des Sees aussprach. Ähnliche Worte wie die, die James in dem Buch vorfand. Die gleiche Geschichte.
Sonia schüttelt den Kopf. »Ich dachte, nur Leute wie ich - Spiritisten, Zigeuner und ähnliche Menschen - wüssten von der Prophezeiung.«
Luisa zuckt mit den Schultern, lächelt uns reumütig an und wischt die letzten Haferkörner von ihren Händen. »Meine Mutter war Engländerin. Es wird behauptet, dass sie aus einer Familie von Heiden stammt. Das ist natürlich Unsinn, aber vermutlich hat die Geschichte meiner Großmutter dort ihren Ursprung.«
Sonia beäugt gierig das Buch. »Verrätst du uns, was das ist, Lia?«
»Mein Vater sammelte alle möglichen Dinge. Unter anderem auch seltene Bücher.« Ich strecke ihnen das Buch entgegen. »Nach seinem Tod wurde dies hier in einem Geheimfach in der Bibliothek gefunden.«
Luisa kommt mit raschen Schritten auf mich zu, nimmt das Buch aus meiner Hand und lässt sich neben uns auf den Strohballen fallen. Sie schlägt es auf, blättert die Seite
eilig, aber vorsichtig um und klappt es dann wieder zu. »Das kann ich nicht lesen, Lia. Das ist Latein! Ich kann ja kaum Italienisch sprechen, und das ist die Sprache meines Vaters! Woher wollen wir wissen, ob dieses Buch irgendetwas mit den Zeichen zu tun hat, wenn wir es nicht einmal lesen können?«
Sonia nimmt ihr das Buch aus der Hand, ehe ich antworten kann. Sie untersucht es gründlicher als Luisa, aber auch sie wirft nur einen kurzen Blick auf die Buchstaben und schließt es, ebenso wie Luisa, mit einem ratlosen Blick. Sanft fährt sie mit der Hand über den Einband.
»Tut mir leid, Lia, ich kann ebenfalls kein Latein.«
Ich ziehe das gefaltete Blatt Papier mit James’ Notizen aus meinem Seidenbeutel. »Ich auch nicht. Aber ich kenne zufällig jemanden, der diese Sprache beherrscht.«
Ich reiche ihnen die Übersetzung und lasse ihnen Zeit, um sie zu lesen und über die Worte nachzudenken, die James in seiner ordentlichen Handschrift niederschrieb.
Als Sonia den Text gelesen hat, lässt sie das Blatt Papier in ihren Schoß sinken. Ihr Gesicht ist völlig ausdruckslos. Luisa kaut auf ihrer Unterlippe und zieht einen Strohhalm aus dem Ballen. Sie steht auf und fängt an, hin und her zu laufen. Ihre Schritte hallen durch den Stall. Dann spricht sie.
»Also gut. Überlegen wir einmal gründlich. Wenn die Legende wahr ist und wenn das Zeichen etwas damit zu tun hat, wenn Alice und du die Schwestern seid …«
»Das sind viele ›Wenns‹, Luisa.« Ich will ihr nicht widersprechen.
Sie spricht nur das aus, was ich mir selbst schon überlegt habe. Aber trotzdem erscheint es mir wichtig, auch der Stimme der Vernunft Gehör zu verschaffen, selbst wenn sie sich immer weiter von mir entfernt.
Luisa nickt. »Du hast recht. Aber wenn wir das Buch nehmen, die Legende, dich und Alice und das Zeichen … Nun, die augenfälligste Gemeinsamkeit zwischen der
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