Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Medaillon in meiner Nachttischschublade. Es pulsiert wie etwas Lebendiges, schickt ein stummes, aber deutlich spürbares Signal aus, das mir gilt. Ein Teil von mir glaubt, dass das Medaillon mir gehört, dass es an mein Handgelenk gehört. Aber der andere Teil, derjenige, der noch klar denken kann, hält es für unklug, das Medaillon zu tragen, bevor ich nicht weiß, was es damit auf sich hat.
Die Willenskraft, die nötig ist, es dort zu lassen, wo es ist, trifft mich unvorbereitet. Ich lösche das Licht und - ganz plötzlich - wird mein Vorhaben, es nicht aus der Schublade zu holen, von meinem Verlangen, meinem Bedürfnis, es anzulegen, seine Schwere auf meiner warmen Haut zu spüren, übermannt. Einen erschreckenden Moment lang kann ich mich nicht mehr daran erinnern, warum ich es nicht tragen sollte.
Und dann, in der tiefen Dunkelheit, finde ich die Klarheit, die es mir ermöglicht, mich abzuwenden. Ich drehe dem Nachttisch den Rücken zu und zwinge mich in den Schlaf.
Meine Träume geben mir Sicherheit. Ich bin sowohl in ihnen als auch über ihnen, schaue zu, wie sie sich vor mir ausbreiten. Es gibt Momente, in denen ich mir des Gefühls des Fliegens bewusst bin, als ob ich mit den Schwingen reisen würde. Aber dann sind da andere, in denen ich - sogar in dem unterbewussten Zustand des Schlafes - weiß, dass ich nur träume.
Blitzartig tauchen Szenen vor mir auf - geräuschlose Bilder vom Grab meiner Mutter, eine Schwärze, die neben ihrem Grabstein aus der Erde quillt. Die Klippe, von der sie stürzte, mein Vater und seine gequälte, entsetzte Miene, als wir ihn im dunklen Zimmer fanden. In meinem Traum werde ich von den riesigen geflügelten Dämonen gejagt, aber diesmal wird die Armee von etwas noch Schreckenerregenderem angeführt. Sein Herz schlägt im gleichen Rhythmus wie mein eigenes, verbannt jeglichen vernünftigen Gedanken, während es sich mit dem Donner von Tausenden von Hufen nähert.
Lauter, lauter, lauter.
Und dann falle ich. Ich falle durch eine dunkle und endlose Leere. Zunächst glaube ich, dass es das Zischen der schwarzen Bedrohung aus meinem Traum ist, das mich so unvermittelt im Bett hochschrecken lässt, dass dies der Grund ist, warum mein Herz so heftig in meiner Brust hämmert. Aber ein rascher Blick zum Fußende meines Bettes belehrt mich eines Besseren: Dort hockt Ari und faucht mich ängstlich oder wütend an. Wachsam und misstrauisch beobachtet er mich, mit einem Katzenbuckel und gebleckten Zähnen.
Und dann tut er etwas noch Merkwürdigeres.
Er dreht sich um, springt vom Bett, tapst zielstrebig zur Ecke des Zimmers, wo er sich mit dem Rücken zu mir hinsetzt und die Wand anstarrt, als ob ich gar nicht da wäre. Ich kann meine Augen nicht von seinem Schatten abwenden. Sein Körper ist nur als verschwommener Schemen
in der Ecke des Zimmers sichtbar. Er ist mir unheimlich, obwohl er doch nur der Kater ist, den ich seit so vielen Jahren innig liebe.
Durch die Fenster dringt kein Licht, und einen Moment lang glaube ich, dass es noch Nacht sein muss. Aber dann höre ich die Geräusche im Haus, die mir sagen, dass die Dienstboten bereits wach sind. Es ist schon fast Winter und somit morgens merklich dunkler als noch vor wenigen Wochen.
All das jagt mir in Sekundenschnelle durch den Kopf - die Dunkelheit, Aris merkwürdiges Benehmen, die Geräusche des allmählich erwachenden Hauses. Einen Moment später werde ich des Gewichts an meinem Handgelenk gewahr. Es ist zu dunkel, als dass ich etwas sehen könnte, und so taste ich mit meiner anderen Hand danach, nur um sicher zu sein. Aber auch das reicht nicht aus, um meinen Unglauben zu vertreiben, daher suche ich auf dem Nachttisch nach einem Streichholz und entzünde die Lampe, deren Lichtschein sich auf dem Medaillon an meinem Handgelenk widerspiegelt.
13
E s dauert fast den ganzen Vormittag, ehe ich unbe-merkt mit dem Medaillon aus dem Haus schlüpfen kann.
Alice kommt mir heute Morgen, während wir frühstücken und danach lesen, wachsamer vor als sonst, obwohl ich mir sage, dass sie unmöglich wissen kann, was ich vorhabe. Trotzdem verlasse ich Birchwood Manor erst, nachdem sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen hat, um eine überfällige Französischaufgabe zu erledigen.
Der Wind ist so kalt, dass er mir den Atem raubt, aber auch das kann mich nicht aufhalten. Mein Entschluss steht fest. Ich schiebe mein Unbehagen beiseite und gehe um das Haus auf den Fluss zu. Ich zwinge meine Füße, einen Schritt nach dem
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