Die Prophezeiung der Schwestern - 1
ignoriert meine Frage und ist mit zwei langen Schritten bei mir. »Was ist? Was ist los?« Wieder nimmt er meine Hand, und ich
fühle seine Augen auf meinem Gesicht, während ich in das wirbelnde Wasser starre. »Freust du dich nicht, mich zu sehen?«
Das ist es. Das ist der Moment, in dem du es ihm sagen musst. Sag ihm alles. Vertraue auf seine Liebe. Wie ein störrischer Wind wehen diese Worte durch mein Herz, aber ich wende mich von ihnen ab, obwohl mir mein Verstand sagt, dass ich falsch handele.
»Natürlich freue ich mich.« Ich lächle, versammle all meine Kraft, um mein Lächeln zum Strahlen zu bringen, es so sorglos wie möglich erscheinen zu lassen. »Ich … Ich fühle mich nur heute nicht besonders wohl, das ist alles. Vielleicht sollte ich mich lieber zurückziehen.«
Er ist enttäuscht. Enttäuscht, dass ich nicht den Tag mit ihm verbringen will, wo er doch extra zu mir gekommen ist. »Also gut. Ich bringe dich zurück zum Haus.« Er versteckt den gekränkten Ausdruck in seinen Augen hinter einem Lächeln, das ihm jeder abgenommen hätte, der ihn nicht so gut kennt wie ich.
James und ich verabschieden uns im Hof, nachdem wir den Weg vom Fluss zurück mit nichtssagenden, angespannten Worten hinter uns gebracht haben. Noch im Weggehen hält er meine Hand fest, als wollte er verhindern, dass ich ihm weiter entgleite. Ich schaue seiner Kutsche nach, wie sie hinter der Biegung der Einfahrt verschwindet, und gehe dann auf das Haus zu.
Als ich schon auf den Stufen hinauf zur Eingangstür
stehe, ertönt hinter mir eine Stimme. »Miss? Sie haben etwas fallen gelassen, Miss.«
Es ist das kleine Mädchen aus der Stadt, das mir meinen Kamm gab - und das Medaillon. Sie trägt dieselbe himmelblaue Schürze und ihre flachsfarbenen Locken tanzen auf ihren Schultern.
Ich schaue mich um, verblüfft über den Umstand, dass dieses Kind so plötzlich hier auftaucht, so weit von der Stadt entfernt. Nirgends ist ein Erwachsener zu sehen, und auch weder Kutsche noch Pferd. Ich gehe die Stufen wieder hinunter, auf sie zu, und verenge misstrauisch die Augen. Immerhin war sie es, die mir das Medaillon zugesteckt hat, wie unschuldig sie auch aussehen mag.
»Ich habe nichts fallen gelassen. Wie heißt du? Wie bist du hierhergekommen?«
Sie beachtet meine Fragen nicht, sondern streckt mir ihre zur Faust geschlossene Hand entgegen. »Ich bin sicher, dass es Ihnen gehört, Miss. Und ich bin deswegen den ganzen Weg bis hierher gekommen.« Ihre Hand zuckt so unvermittelt nach vorn, dass ich reflexartig das Ding entgegennehme, das sie mir hinhält. Sie wendet sich um und hüpft den baumgesäumten Weg entlang. Dabei summt sie dieselbe Melodie wie damals in der Stadt.
Erst da spüre ich die Nässe. Wasser strömt zwischen meinen Fingern hindurch. Meine Hand zittert heftig, und ich öffne sie, um nachzusehen, was mir das Mädchen übergeben hat.
Das kann nicht sein.
Das Medaillon liegt auf meiner Handfläche. Die Schwärze des Samts hat sich durch das Wasser, mit dem der Stoff vollgesogen ist, noch verdunkelt. Es rinnt an meiner Hand herab und fällt auf die Steinstufen. Das Band ist nicht einfach nur feucht. Es ist tropfnass, als ob es gerade eben erst aus dem Fluss geholt worden wäre.
Ich muss das Mädchen aufhalten.
Das Mädchen, das Mädchen, das Mädchen.
Ich renne die restlichen Stufen hinunter, den verhassten Gegenstand fest mit der Hand umklammernd, renne auf den dunklen, tunnelartigen Weg zu, der zur Straße führt. Ich renne so weit, bis die Bäume ein schattiges Dach über mir bilden. Dann stehe ich bloß da und starre in die Richtung, in die ich sie hüpfen sah. Unheimlich säuselt der Wind in dem Laub über mir. Es hat keinen Sinn. Sie ist weg und irgendwie habe ich nichts anderes erwartet.
»Ist es sehr kalt draußen?«, fragt mich Henry, als ich ins Haus komme. Ich reibe mir die Hände. Er und Tante Virginia spielen Karten. Das Feuer im Kamin knackt und prasselt.
»Ziemlich. Ich vermute, dass keiner von uns mehr bis zum Frühling viel Zeit am Fluss verbringen wird.« Ich hänge meinen Mantel auf und wende mich den beiden mit einem Lächeln zu, von dem ich hoffe, dass es meine Fassungslosigkeit verbirgt. »Wer gewinnt?«
Henry grinst triumphierend. »Ich natürlich!«
»Natürlich? Oh, du frecher Kerl!«, neckt Tante Virginia. Sie schaut zu mir. »Möchtest du mitspielen?«
»Nicht jetzt. Mir ist eiskalt. Ich werde mir erst etwas anderes anziehen. Vielleicht nach dem Abendessen.«
Tante Virginia
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