Die Prophezeiung der Schwestern - 1
nickt geistesabwesend.
Ich schaue mich im Wohnzimmer um. »Wo ist Alice?«
»Sie sagte, sie wolle sich zurückziehen und ausruhen«, erwidert Tante Virginia murmelnd und betrachtet konzentriert ihre Karten.
Ich gehe in mein Zimmer, um mir eine Decke zu holen. Eine tiefe Unruhe bemächtigt sich meiner. Als ich die Tür öffne und eine Gestalt sehe, die über meine Kommode gebeugt in der Schublade herumkramt, begreife ich den Grund.
»Kann ich dir helfen?« Die Kälte in meiner Stimme fühlt sich fremd an in meiner Kehle.
Alice wirbelt herum. Sie starrt mich an. Ihr Gesicht ist eine ausdruckslose Maske. Sorgfältig wägt sie jedes Wort ab, ehe sie mir in beiläufigem Ton antwortet. »Nein, danke. Ich suche nur die Brosche, die ich dir irgendwann im Sommer geliehen habe.« Sie bleibt vor mir stehen, kann das Zimmer nicht verlassen, weil ich ihr den Weg versperre.
»Ich habe sie dir zurückgegeben, Alice. Bevor die Schule im Herbst wieder losging.«
Ihr Lächeln ist knapp und hart. »Richtig. Das hatte ich vergessen.« Sie nickt in Richtung Tür. »Du erlaubst?«
Ich warte einen Moment, bade in ihrem Unbehagen, in der Art, wie sie sich ausnahmsweise unter meinem Blick windet. Dann trete ich beiseite und gestatte ihr zu gehen, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Eine halbe Stunde später sitze ich an meinen Schreibtisch. Ich habe mir eine Decke um die Schultern gelegt, um die Kälte abzuwehren, und brüte über Alices Absichten nach.
Das Buch befand sich die ganze Zeit im Schrank, wo ich es versteckt habe. Es war nicht so gut verborgen, dass Alice es bei einer gründlichen Suche nicht hätte finden können. Ich kann nur vermuten, dass sie entweder keine Zeit hatte, den Schrank zu durchwühlen, oder dass sie das Buch fand, aber keine Verwendung dafür hatte.
Das Medaillon war die ganze Zeit bei mir, wie sehr ich auch versuchte, es loszuwerden. Es besteht kein Zweifel daran, dass es sich nicht so leicht wird abschütteln lassen. Sollte Alice von der Existenz des Medaillons wissen, ist es schwer zu glauben, dass ihr diese Tatsache unbekannt ist. Sie muss wissen, dass es zu mir gehört.
Aber wenn sie nicht nach dem Buch suchte und auch nicht nach dem Medaillon, wonach sonst?
Ich betrachte das Buch, das aufgeschlagen vor mir auf dem Schreibtisch liegt. Die Prophezeiung ist mir mittlerweile so vertraut, dass ich sie auswendig aufsagen kann, und doch frage ich mich, ob mich ein neuerliches Lesen auf die Spur dessen bringt, was ich übersehen habe. Dabei höre ich Vaters Stimme, so deutlich, als ob er neben mir säße.
Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Er sagte es oft. Es ist ein so dummer Spruch, ein Klischee. Aber ich öffne meinen Geist und lese die Prophezeiung
noch einmal, und zwar so, als würde ich sie zum ersten Mal lesen.
Am Anfang scheinen mir die Worte genau so, wie ich sie in Erinnerung habe. Erst als ich zu der Stelle mit den Schlüsseln komme, blitzt Erkenntnis in mir auf. In meiner Kehle bildet sich ein Kloß.
Die Schlüssel. Alice glaubt, dass ich die Schlüssel habe.
Das Wissen, dass sie nach den Schlüsseln sucht, verschafft mir eine Art Trost, denn es bedeutet, dass sie sie noch nicht gefunden hat. Dass ich immer noch Zeit und die Möglichkeit habe, sie zuerst aufzuspüren.
Die Tür öffnet sich einen Spalt und ich schrecke hoch. Ich drehe mich um und sehe Ivy mit einem Tablett auf mich zukommen.
»Hier, bitte schön, Miss. Es geht doch nichts über eine heiße Tasse Tee an einem so kalten Tag.« Sie stellt den Tee auf den Schreibtisch und bleibt unbeholfen neben mir stehen.
Einen Augenblick lang begreife ich nicht, wieso sie mir ungefragt Tee aufs Zimmer bringt oder warum sie neben meinem Stuhl stehen bleibt, als würde sie auf etwas warten. Aber dann sehe ich das kleine Stück Papier, das zwischen Tasse und Untertasse steckt.
»Was ist das?« Ich drehe mich zu ihr um.
Sie verlagert ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, spielt mit ihrer Schürze und weicht meinem Blick aus. »Es … es ist eine Nachricht, Miss. Aus der Stadt.«
Ich bin so überrascht, dass ich nicht darauf komme, das
Offensichtliche zu tun, nämlich einfach das Stück Papier auseinanderzufalten und die Nachricht zu lesen. Stattdessen frage ich: »Eine Nachricht? Von wem?«
Sie beugt sich vor und schaut sich um, als würde uns jemand belauschen. Ihre Augen leuchten; offensichtlich genießt sie die Geheimniskrämerei. »Von einer Freundin von mir. Einer Magd aus dem Haus dieses Mädchens. Dieses
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