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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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ausfindig machte und nach New York brachte.«
    Es ist, als würde mein Herz aufhören zu schlagen. Eine Ahnung durchläuft meinen Körper. »Das musst du mir näher erklären.«
    Sie nickt. »Es fing an, nachdem deine Mutter gestorben war. Dein Vater hat Stunde um Stunde in der Bibliothek zugebracht.« Ihre Augen hellen sich auf, als sie daran denkt. »Natürlich liebte er die Bibliothek, aber zu dieser Zeit … nun, sie wurde zu seiner Zuflucht, zu seinem Refugium. Wir bekamen ihn kaum noch zu Gesicht und schon
bald trafen diese merkwürdigen Briefe ein. Dann ging er auf Reisen.«
    »Was hat das alles mit diesen ›anderen‹ zu tun?«
    »Er arbeitete eine Liste ab. Eine Liste von Namen und Orten.«
    Ich schüttele den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Was wollte er mit einer solchen Liste anfangen?«
    »Ich weiß nicht. Er wollte es mir nicht sagen. Aber er hat zwei von ihnen hierher gebracht.«
    »Wen? Wen hat er hergebracht?«
    »Die Mädchen. Zwei Mädchen. Eins aus England, das andere aus Italien. Aber er wollte mir den Grund dafür nicht verraten.«
    In diesen Worten liegt das Versprechen für eine Erklärung, aber eine, die ich noch nicht bereit bin anzunehmen. Tante Virginia steht auf, und während sie versucht, das Feuer zu neuem Leben zu erwecken, starre ich in die glühende Asche und versuche, den Sinn dessen, was ich gerade gehört habe, zu begreifen. Trotz all der Dinge, die ich erfahren habe, bin ich der Lösung des Rätsels keinen Schritt näher gekommen. Im Gegenteil.
    Aber eine Sache kann hier und jetzt geklärt werden.
    »Darf ich es sehen, Tante Virginia?«
    Sie wendet sich vom Kamin ab. In ihren Augen sehe ich, dass sie mich verstanden hat. Sie kehrt zu ihrem Sessel zurück, setzt sich und streckt mir wortlos die Hand entgegen. Ich schiebe den Ärmel ihres Nachthemds hoch und sehe nichts - nichts außer der weichen, hellen Haut
auf ihrem schmalen Handgelenk. Sie hat das Zeichen nicht.
    Ich nicke. »Das habe ich mir gedacht.« Meine Stimme klingt hölzern in dem stillen Zimmer. Es ist eine Stimme, die nicht mir zu gehören scheint.
    »Lia. Es … es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du es weißt.«
    Es tut ihr wirklich leid. Ich kann es in den sorgenvollen Falten um ihre Augen erkennen, in der Anspannung in ihren Mundwinkeln. Ich will sie anlächeln, aber mein Gesicht mag mir nicht recht gehorchen. »Schon gut, Tante Virginia. Ich glaube, ich wusste es. Ich wusste es die ganze Zeit.«
    Wenigstens muss ich jetzt meine Tante nicht mehr fürchten. An das andere will ich nicht denken, an meine Mutter und ihre Rolle als Tor. Stattdessen konzentriere ich mich auf das, was noch nicht geschehen ist, was ich noch verändern und beeinflussen kann. »Wo sind die Schlüssel, Tante Virginia?«
    »Welche Schlüssel?«
    Ich betrachte ihr Gesicht, aber ich kann keine Täuschung darin erkennen. Keine Geheimnisse. »Die Schlüssel, von denen in der Prophezeiung die Rede ist. In dem Buch. Die Schlüssel, die die Prophezeiung beenden.«
    Sie seufzt auf. »Ich sagte schon, dein Vater war nicht sehr mitteilsam in dieser Beziehung. Ich fürchte, ich habe das Buch nie gesehen.«
    »Aber wie konntest du deine Aufgabe als Wächter ausüben, ohne das Wissen der Prophezeiung?«

    »Ich wurde von meiner Tante Abigail unterwiesen, die ebenfalls ein Wächter war.« Sie richtet den Blick auf die Hände, die gefaltet in ihrem Schoß liegen, und schaut mich dann wieder an. »Und jetzt ist es meine Aufgabe, Alice mit ihrer Rolle als Wächter vertraut zu machen. Ich hätte schon längst damit anfangen sollen, wenn ich ehrlich bin. Aber ich habe es nicht getan.«
    Fragend schaue ich sie an. »Warum nicht?«
    »Ich würde gerne behaupten, dass ich es nicht weiß, aber das wäre eine Lüge.« Sie seufzt. »Ich hoffte, dass ich mich irre, dass du der Wächter wärst und Alice das Tor, weil ich mir einfach nicht vorstellen kann, Alice in dieser Aufgabe zu unterweisen - genauso wenig, wie ich mir vorstellen kann, dass sie sie erfüllt.«
    »Aber … wenn du es ihr beibringen würdest … Wenn du ihr zeigst, wie man ein Wächter ist …«
    Sie lässt mich nicht ausreden. »Es gibt etwas, das du begreifen musst, Lia. Selbst wir, die wir an der Prophezeiung mitwirken, haben unterschiedlich starke Kräfte. Die Fähigkeit des Wächters liegt in dem Willen, die vorgegebene Rolle auszufüllen, und in der angeborenen Kraft. Die meisten dieser Schwestern haben den unbändigen Wunsch, ihre Aufgabe bestmöglich auszuführen, manche aber nicht.

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