Die Prophezeiung der Schwestern - 1
anderen zu machen, so schnell es meine Röcke erlauben. Mein Seidenbeutel baumelt an meinem Handgelenk, während ich fast anfange zu rennen. Die Kälte fühle ich nicht mehr. Ich fühle oder höre gar nichts. Alles ist still und bewegungslos, während ich
zum Fluss laufe, als ob die Welt selbst wüsste, was ich tun will.
Am Flussufer angekommen, greife ich in meinen Beutel und taste nach dem Medaillon. Halb erwarte ich, dass es weg ist, verschwunden, um sich selbst zu schützen. Aber schließlich ist es nur ein Gegenstand, und es liegt in dem Beutel, wo ich es vor dem Frühstück hineingelegt habe.
Ich will nichts weiter, als es so schnell wie möglich loszuwerden.
Ich hole aus und zögere nur den Bruchteil einer Sekunde, ehe ich den Arm nach vorn schleudere und das Medaillon mit ganzer Kraft in den Fluss werfe. Eine kleine Dampfwolke erhebt sich, wo es im Wasser landet. Ich trete so nah an den Fluss heran, wie ich kann, ohne zu riskieren, ins Wasser zu fallen.
Da ist es, wirbelt flussabwärts, getragen von einer wütenden Strömung. Das schwarze Samtband hat sich wie eine Schlange um die Goldscheibe gewunden, die auf dem Wasser glitzert, obwohl kein Sonnenstrahl zu sehen ist.
Ich bleibe noch eine Weile am Fluss, um mich zu sammeln. Ich weiß nicht, in welcher Verbindung das Medaillon zu der Prophezeiung steht, aber ich bin mir sicher, dass es etwas mit den Seelen und ihrem Weg in die irdische Welt zu tun hat. Jetzt schwimmt es irgendwo dort in dem kalten, wilden Wasser des Flusses. Es wird hinabsinken und zwischen den Felsen zur Ruhe kommen. Ich bete zu einem Gott, den ich kaum anerkenne, dass niemand es je wieder zu Gesicht bekommt.
Ich setze mich auf das trockne Laub am Flussufer, mit dem Rücken gegen den großen Felsen gelehnt, wo ich mich oft mit James treffe. Der Gedanke an ihn wirbelt eine Unruhe in meinem Magen auf. Mir ist klar, dass er die Prophezeiung allerhöchstens als Legende auffasst. Meine kürzlich offenbar gewordene Rolle als Tor für die verlorenen Seelen wäre selbst einer fantasiebegabten Person kaum verständlich zu machen, geschweige denn einem so vernunftorientierten Menschen wie James.
Ich versuche, mir vorzustellen, wie er reagieren würde, sollte ich je den Mut aufbringen, ihm alles zu erzählen. Wir sind Freunde, sind einander versprochen. Aber in der Vertrautheit seiner Liebe liegt plötzlich auch eine tiefe Unsicherheit. Eine kleine Stimme flüstert mir zu: Was, wenn er dich nicht mehr will? Was, wenn er eine so merkwürdige Person mit einer so merkwürdigen Rolle in einer so merkwürdigen Geschichte gar nicht heiraten will? Er wird behaupten, dass seine Gefühle für dich wahrhaftig sind, aber er wird dich nie wieder mit derselben Liebe und demselben Vertrauen anblicken. Ich schüttele den Kopf und verleugne meine Zweifel vor mir selbst.
»Warum schüttelst du den Kopf, wenn du allein bist?« James’ Stimme schreckt mich aus meinen Gedanken und meine Hand fährt zu meinem Mantelkragen.
»Du meine Güte! Was machst du denn hier? Es ist doch Sonntag!« Er tauchte so plötzlich auf, als hätte ich ihn allein durch meine Gedanken beschworen, und lehnt sich dem Felsen gegenüber an einen Baum.
Er legt den Kopf schräg. Ein verschmitztes Lächeln überzieht seine Lippen. »Darf ich dich nicht sehen, wenn ich Lust dazu habe?«
Ich bin hin und her gerissen zwischen meinem Verlangen, ihn in meiner Nähe zu haben, und dem Berg von Geheimnissen, der sich immer weiter aufhäuft. »Nun … Doch, doch natürlich. Ich habe dich nur nicht erwartet.«
Er kommt zu mir. Seine Stiefel knirschen auf dem Waldboden. »Vater hatte keine Verwendung für die Kutsche, und ich konnte es einfach nicht bis morgen abwarten. Ich musste dich sehen. Ich habe gehofft, dich hier vorzufinden.« Er streckt die Hand nach mir aus und ich nehme sie, lasse mich von ihm auf die Füße ziehen und an seinen Körper drücken. Als er wieder spricht, ist seine Stimme tief und rau. »Guten Morgen.«
Sein musternder Blick macht mich verlegen, obwohl er mich bestimmt schon tausendmal so angeschaut hat. »Guten Morgen.« Ich senke den Blick und trete zurück, verlasse die Wärme, die von seinem Körper ausgeht. »Wie geht es deinem Vater?«
Was für eine lächerliche Frage! Natürlich geht es Mr Douglas gut, ansonsten wäre James nicht hierhergekommen. Aber das gibt mir die Gelegenheit, ein Stück weiter weg zu gehen, ohne den Anschein zu erwecken, als wollte ich ihm ausweichen.
Aber James kennt mich viel zu gut. Er
Weitere Kostenlose Bücher