Die Prophezeiung der Schwestern - 1
seltsamen Mädchens.«
Tante Virginia bespricht sich mit der Köchin und Margaret, um das Erntedankfest zu planen, das nächste Woche stattfindet. Henry hält seinen Mittagsschlaf. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um mich davonzuschleichen.
Edmund ist im Kutschhaus und überwacht einen Jungen, der eine der Kutschen putzt. Der Junge bemerkt mich nicht, aber Edmund schaut auf, als ich eintrete.
»Miss Amalia! Ist etwas passiert?« Seit Alice und ich hier als Kinder Versteck spielten, war ich nicht mehr im Kutschhaus.
Ich komme näher und stelle mich mit dem Rücken zu dem Jungen. »Ich muss in die Stadt, Edmund. Allein. Ich würde Sie nicht bitten, aber es ist … es ist wichtig.«
Sein Blick hält meinen fest, und einen angsterfüllten Augenblick lang denke ich, dass er sich weigern wird, dass ich ihn daran erinnern muss, dass Tante Virginia nur unser Vormund ist, dass Alice, Henry und ich die Herren auf Birchwood sind. Glücklicherweise erspart er mir die Demütigung, zu solchen Mitteln greifen zu müssen.
»Also gut. Wir nehmen die andere Kutsche. Sie steht hinter den Ställen.« Er dreht sich um und geht zur Tür hinaus. Dabei murmelt er: »Ihre Tante wird mir den Kopf abreißen.«
14
I ch betrachte das Stück Papier, das Ivy mir zu-sammen mit dem Tee gebracht hat. Ich weiß nicht, was Sonia vorhat, aber ich will ihr mit dem gleichen Vertrauen begegnen, das sie mir entgegenbringt. Ihre Schrift ist so steil und ordentlich wie die eines Kindes.
Liebste Lia, ich habe jemanden ausfindig gemacht, der uns weiterhelfen kann. Bitte vertrau mir und komm heute um ein Uhr nachmittags in die York Street Nr. 778.
S.S.
Ich habe Edmund die Adresse genannt und vermute anhand seines verächtlichen Schnaubens, dass wir uns in einen Teil der Stadt begeben, der sich für mich nicht ziemt. Nichtsdestotrotz stellt er keine Fragen und ich hätte ihn für seine unerschütterliche Loyalität am liebsten geküsst.
Die Kutsche rumpelt unangenehm durch die vielen Schlaglöcher und Unebenheiten in der hart gebackenen, festgefahrenen Straße. Es hat seit dem Tag, an dem wir Vater begruben, nicht mehr richtig geregnet, und das ist schon anderthalb Wochen her. Ich empfinde die Vorstellung, dass Gott all seine Tränen angesichts von Vaters Tod vergossen hat, als tröstlich. Trotzdem gibt der Mangel an Regen den Dienstboten Anlass zum Tratsch. Sie schnalzen mit der Zunge und schütteln die Köpfe und streiten darüber, ob wir nun einen besonders kalten Winter zu erwarten hätten oder einen besonders warmen.
In Windeseile durchqueren wir den mir vertrauten Teil der Stadt. An Wycliffe vorbei, dem Buchladen, den vornehmen Pensionen und Restaurants, den Süßwarenläden, Sonias Haus. Kurz darauf lenkt Edmund die Pferde in eine stille Gasse hinter all den sauberen und geschäftigen Hauptstraßen.
Die Gasse ist dunkel, wird von beiden Seiten durch die hohen Mietshäuser beschattet, in denen die weniger Wohlhabenden leben. Durch das Fenster der Kutsche sehe ich Wäsche auf Leinen hängen, die man quer über die mit Abfall übersäte Gasse gespannt hat. Die Fahrt wird holpriger, der Boden noch trockener, als ob selbst das Wasser sich scheuen würde, sich lange hier aufzuhalten. Ich verspüre schon eine leichte Übelkeit, als Edmund die Pferde mit einem leisen Ruf zum Stehen bringt.
Durch das Fenster blickend, kann ich mir keinen vernünftigen Grund vorstellen, warum Sonia mich ausgerechnet
an einem solchen Ort treffen will, aber Edmund steht schon an der Tür und öffnet sie, bevor ich noch darüber nachdenken kann, ob es klug war, hierherzukommen.
»Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind, Miss?«
Ich steige aus der Kutsche, entschlossen, die Sache zu Ende zu bringen. Unsere Aufgabe lässt keinen Raum für zaudernde Herzen. »Ja. Ganz sicher, Edmund.«
Edmund hält seinen Hut in den Händen, während wir auf Sonia warten. Zwei kleine Jungen treten einen großen Stein über das Pflaster. Sie veranstalten einen ungeheuren Lärm dabei, aber ihr vergnügtes Lachen ist eine willkommene Abwechslung in der Stille der ansonsten verlassenen Straße.
»Welches Haus ist es?«, frage ich Edmund.
Er nickt zu einer schmalen Tür ein paar Schritte von der Kutsche entfernt. »Das da drüben.«
Ich frage mich schon, ob ich einen Fehler begangen habe, als Sonia um die Ecke geeilt kommt, atemlos und mit geröteten Wangen. »Oh du meine Güte! Bitte entschuldige, dass ich mich verspätet habe! Es ist so schwer, Mrs Millburns
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