Die Prophezeiung der Schwestern - 1
den Worten kämpft, die sie aussprechen will.
Madame Berrier nimmt ihr die Mühe ab. »Miss Sorrensen sagte mir, dass Sie sich in einer … ungewöhnlichen Lage befinden, Miss Milthorpe.«
Ich antworte nicht sofort. Ich empfinde Unsicherheit angesichts der Vorstellung, die Dinge, die ich so mühsam geheim gehalten habe, einer mir völlig Fremden anzuvertrauen. Aber schließlich nicke ich, denn welchen Zweck hätte unser Besuch, wenn ich nicht der Person, von der ich mir Rat erhoffe, Rede und Antwort stehen würde?
»Darf ich Ihre Hand sehen?« Sie streckt ihre eigene Hand mit einer derartigen Autorität nach mir aus, dass ich nicht einmal auf die Idee komme, ihrer Aufforderung nicht nachzukommen.
Ich strecke ihr meine Hand über den Kaffee und die Zuckerdose hinweg hin.
Sie schiebt mir den Ärmel hoch und betrachtet mit kühlem Blick das Zeichen. Dann lässt sie meine Hand wieder los. »Hmm … Interessant. Ziemlich interessant sogar. Ich habe es natürlich schon früher gesehen. In den Erzählungen der Prophezeiung und an den wenigen Auserwählten, die eine Rolle darin spielten. Aber noch nie eins wie dieses. Es ist äußerst ungewöhnlich.« Sie nickt. »Aber das war natürlich zu erwarten.«
Ihre letzten Worte treffen mich unvorbereitet. »Warum … Warum war es zu erwarten?«
Sie stellt ihre Tasse mit einem leisen Klicken wieder auf die Untertasse. »Weil die Prophezeiung es so vorgibt, meine Liebe. Weil die Prophezeiung es verspricht !«
Ich blinzle und habe den Eindruck, durch dicken Nebel zu waten. »Es tut mir wirklich leid, Madame. Ich fürchte, ich verstehe rein gar nichts.«
Sie legt den Kopf schräg, als ob sie abschätzen würde, ob sie meine Unwissenheit für ein Täuschungsmanöver oder einfach nur für Dummheit halten soll. Dann beugt sie sich vor und spricht mit einer leisen und eindringlichen Stimme. »Die Seelen sind hilflos ohne Samael. Seit Jahrhunderten versammeln sie eine Armee, aber die Prophezeiung bestimmt, dass sie ohne die Führerschaft von Samael, dem Untier, nichts unternehmen können, um die Götterdämmerung heraufzubeschwören. Und es gibt nur eine, die ihn herbeirufen kann. Nur eine, die das einzigartige Zeichen dieser Macht trägt.« Sie hält inne und schaut mir mit einem Ausdruck von Ehrfurcht und vielleicht einem kleinen Anflug von Angst in die Augen. »Es gibt keinen Zweifel, dass Sie diese eine sind. Sie, meine Liebe, sind der Engel. Der Engel des Chaos.«
Durch den Schleier aus Schock kommt die Erkenntnis wie ein uralter Gesang, ein Trommelschlag, der durch meine Knochen zuckt und sich auf schnellen Schwingen in meinem ganzen Körper ausbreitet. Ich kann es nicht durchbrechen, kann dieses wachsende Verstehen nicht überwinden, kann nicht sprechen. Es war schwer genug, meine Rolle als Tor zu akzeptieren. Was bedeutet diese neue Bestimmung für den Platz, den ich in der Prophezeiung einnehme?
»Aber … ich dachte, Lia sei der Wächter. Das ist sie doch, oder nicht?« Sonias Stimme klingt wie durch einen Tunnel, und mir fällt ein, dass ich noch keine Zeit hatte, ihr von meiner jüngsten Entdeckung zu berichten. Dass ich das Tor bin.
Verblüffung beschattet Madame Berriers Augen. » Mais, non! Es gibt niemanden sonst mit diesem Zeichen, nicht mit so einem Zeichen! Es benennt Ihre Freundin als das Tor, und nicht nur irgendein Tor, sondern als den Engel, als das eine Tor, das die Macht hat, Samael anzurufen. Das eine Tor, das die Wahl hat, ihn in die Welt zu bringen oder ihn für immer zu zerstören.«
»Aber … Lia?« Sonia wendet sich mir zu, fleht nach einer Antwort, die nicht diejenige ist, die ich ihr geben kann. »Das stimmt doch nicht, oder?«
Ich betrachte die Hände in meinem Schoß, als ob ich in ihnen Worte finden würde, die ich Sonia geben kann. Aber ich allein habe die Antwort, die sie hören muss. Ich hebe den Blick.
»Doch.« Es ist nur ein Flüstern. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, es dir zu sagen. Ich habe es erst gestern Nacht herausgefunden, und ich wusste nicht, dass ich der Engel bin - bis eben.«
Madame Berrier schaut mich entgeistert an, mit Augen, die so tiefdunkel sind, dass ihnen fast jegliche Farbe fehlt. »Sie hatten keine Ahnung, welcher Platz Ihnen gebührt? Hat Ihre Mutter Sie nicht in den Gesetzen der Prophezeiung unterwiesen, Ihnen Ihre Aufgabe nicht erklärt? Spielte sie nicht selbst eine Rolle darin?«
Sonia murmelt neben mir, als würde sie laut denken. Ihre Stimme ist sanft und sachlich. »Ihre Mutter starb, Madame,
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