Die Prophezeiung der Schwestern - 1
gesenkt und kaut an ihrem Daumennagel.
»Nichts?«, frage ich.
Sonia schüttelt den Kopf. »Ich habe auch den Schrank geöffnet und die Hemden und Hosen durchsucht. Hier ist nichts.«
Luisa seufzt. »Und ich habe unter dem Bett nachgesehen, zwischen den Matratzen und hinter dem Kopfteil. Ich fürchte, ich hatte ebenfalls kein Glück.«
Ich kämpfe gegen die Frustration an, die mein ständiger Begleiter zu werden scheint, seit ich die Prophezeiung entdeckt habe und weiß, welche Rolle ich darin spiele. Jeder Schritt vorwärts führt dazu, dass wir wieder zwei zurückgehen müssen. Wir brauchen Hilfe, etwas, das wir der Unterstützung entgegensetzen können, die Alice bislang durch die Seelen erfahren hat.
Ich schaue zuerst Sonia an und dann Luisa. »Es gibt nur eine Person, die genau weiß, wo die Liste versteckt wurde, bevor mein Vater starb.«
Sofort lässt sich Luisa mit fester Stimme vernehmen: »Wir können das Risiko, das Sonia auf sich nimmt, wenn sie deinen Vater in Trance anruft, nicht noch einmal eingehen, Lia. Nicht nach dem, was letzte Nacht geschah. Wir müssen eine andere Möglichkeit finden.«
Ich beabsichtigte gar nicht, Sonia erneut einem Risiko auszusetzen. Ihr Gesicht ist immer noch ausgezehrt und unter ihren Augen liegen dunkle Halbmonde. Sie hat es nicht ausgesprochen, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Begegnung mit dem Untier sie ihrer Stärke beraubt hat. Sie einmal zu bitten, mit meinem Vater zu sprechen, war leichtsinnig, aber sie ein zweites Mal zu fragen, ist ein Weg, den ich nun, da ich mir der Gefahr bewusst bin, niemals gehen würde.
Ich muss nichts sagen. Sonia schaut mir in die Augen
und sieht dort klar und deutlich, was ich vorhabe. »Ich bin es nicht, die ein Risiko eingehen soll.«
Luisa schaut voller Verblüffung zwischen Sonia und mir hin und her. »Das begreife ich nicht.«
Sonia löst ihren Blick von mir und sieht zu Luisa hin. »Eine Seance ist nicht die einzige Möglichkeit, um Kontakt mit den Toten aufzunehmen.«
»Mein Vater ist in den Anderswelten, Luisa. Das stimmt doch, Sonia, oder nicht?«
Sie nickt. »Irgendwo. Ja.«
Und jetzt begreift Luisa. Ihre braunen Augen weiten sich. »Nein! Nein, nein, nein. Du wirst nicht freiwillig auf den Schwingen reisen.« Sie springt vom Bett auf. »Hast du nicht gehört, was deine Tante letzte Nacht sagte? Es ist gefährlich, Lia. Für uns alle, aber für dich am meisten. Nein. Das kommt nicht infrage. Wir können nicht riskieren, dass die Seelen dich aufspüren. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.«
Sonia seufzt, als ob sie sich zwingen müsste, etwas auszusprechen, das sie lieber für sich behalten würde. »Es … Es gibt vielleicht eine Möglichkeit… eine Möglichkeit, mit der Lia ihren Vater schnell finden und dabei den Seelen aus dem Weg gehen könnte.«
Wenn ich die Chance habe - und sei sie auch noch so gering -, meinen Vater zu sprechen und das Versteck der Liste ausfindig zu machen, dann werde ich sie ergreifen. Ich schaue Sonia in die Augen. »Erzähl mir davon.«
»Es gibt Regeln für jene, die auf den Schwingen reisen,
und eine davon lautet, dass keine Seele sich in mehr als einer der sieben Anderswelten gleichzeitig aufhalten kann, obwohl sie alle nach Belieben von einer zur anderen wandern können. Wenn du deinen Vater in einer der Welten finden kannst und die Seelen zur gleichen Zeit in einer anderen verweilen… nun, dann wäre es denkbar, sich das Versteck der Liste nennen zu lassen, ehe man dich entdeckt und gefangen nimmt.«
Etwas an ihren Worten lässt mich aufhorchen. »Aber warum bloß sieben? Sagtest du nicht, es gäbe acht Welten?«
»Die letzte Welt ist den Toten vorbehalten. Hat eine Seele die Schwelle zu dieser letzten Welt überschritten, kann sie niemals mehr in die diesseitige Welt zurückkehren.«
Ich erschauere. »Ist es dann überhaupt möglich, meinem Vater in den Anderswelten zu begegnen, da er doch tot ist, während ich noch lebe?«
Sonia nickt. »Dein Vater hat diese Schwelle noch nicht überschritten. Wir hätten nicht mit ihm sprechen können, wenn es anders wäre. Jene, die freiwillig in den Anderswelten verweilen, tun das aus einem bestimmten Grund. Dein Vater will dir helfen. Wenn er in die letzte Welt eintritt, kannst du nicht mehr mit ihm sprechen, bis du ihm dorthin folgst. Aber die anderen Welten sind … Durchgangsorte, an denen man sich treffen kann.« Sie verstummt und schaut mich liebevoll an, als ob sie meine Enttäuschung, die sie bei
Weitere Kostenlose Bücher