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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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Feder und ein Tintenfass und ein Tiegel mit Handcreme, mit Rosenöl parfümiert. Ich suche weiter, schiebe die wachsende Enttäuschung beiseite, während ich den Schrank durchwühle, den Schreibtisch, und sogar unter dem Bett nachsehe.
    Jetzt bleibt nur noch die Kommode. Sie ist meine letzte Hoffnung, die Liste in Alices Zimmer zu finden. Ich nehme mir zuerst die oberste Schublade vor und arbeite mich dann langsam nach unten, zu den größeren, tieferen Laden. Meine Finger schieben sich zwischen Nachthemden und Umhänge, tasten nach einem Blatt Papier, auf dem die Namen der Schlüssel stehen. Stattdessen schließt sich meine Hand um etwas Schweres, das, eingewickelt in ein Stück Stoff, ganz hinten in der größten Schublade liegt.
    Ich ziehe das Bündel heraus, überrascht von seinem Gewicht, und lege es auf die Kommode, um es mir anzusehen. Die Form des Gegenstands lässt mich zögern, denn
es ist eindeutig nicht die Liste. Aber die Neugier siegt, und langsam schlage ich das Tuch auseinander, bis ein Dolch vor mir liegt. Der Anblick raubt mir den Atem. Es ist kein gewöhnlicher Dolch, sondern eine ziemlich große Waffe, deren Heft mit zahlreichen vielfarbigen Edelsteinen besetzt ist. Ich strecke die Hand danach aus, ziehe sie aber wieder zurück, als sie mit dem verzierten Griff in Berührung kommt. Dann wage ich es erneut, streiche mit den Fingern darüber und fühle, wie mich ein Zittern von unbändiger Macht durchströmt, das durch den Griff in meinen Arm pulsiert.
    Über die Schulter werfe ich einen Blick zur Tür. Ich muss mich beeilen. Entschlossen packe ich den Dolch, und mein Körper summt vor Energie, als ich ihn von der Kommode nehme und ihn mir dicht vor die Augen halte. Was ich auf der Klinge erblicke, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.
    Feine Holzspäne kleben an dem schimmernden Silber. Sie sind winzig, aber ich weiß genau, was das zu bedeuten hat. Ich weiß, wozu dieses Messer benutzt wurde: Es ist das Messer, mit dem Mutters Schutzzauber ausgelöscht wurde. Das Messer, das den Kreis auf dem Boden in meinem Zimmer zerstörte.
    Zorn durchfährt mich. Dieses Gefühl ist um ein Vielfaches stärker als die Energie, die von dem Messer ausgeht, und sorgfältig wickele ich die scharfe Waffe wieder in das Tuch, stecke sie in den Beutel an meinem Gürtel und drücke die Schublade wieder zu. Ich habe kein schlechtes
Gewissen, weil ich Alice den Dolch wegnehme. In ihren Händen kann er nur einem bösen Zweck dienen.
    Ohne einen Blick zurück verlasse ich das Zimmer und lasse die Tür weit offen stehen. Vielleicht ist das eine närrische Geste, aber jetzt ist die Schlachtordnung klar. Es gibt keinen Grund mehr, warum meine Schwester und ich noch irgendetwas vortäuschen sollten.
     
    »Du hast Geheimnisse.« Henrys Stimme dringt aus dem Wohnzimmer zu mir, als ich die letzten Stufen der Treppe hinuntergehe.
    Ich trete ein Stück zur Seite, um zu sehen, woher die Stimme kommt. Er sitzt neben dem Fenster, eingehüllt in seinen Wintermantel und einen Schal, bereit für den Ausflug in die Stadt mit Alice und Tante Virginia.
    Ich zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht und komme näher. »Was willst du denn damit sagen, Henry?«
    Er verzieht keine Miene. »Das weißt du.«
    Mein Lächeln verblasst. »Ich fürchte, nein.«
    Er senkt seine Stimme zu einem Flüstern. »Du bist die Böse, Lia, nicht wahr?«
    Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Henry. Ich fühle mich nicht böse.«
    Er nickt langsam, als ob meine Antwort alles erklären würde. »Die Zeit wird es weisen, Lia.«
    »Die Zeit wird es weisen? Und wer hat dir das gesagt, Henry?«
    »Tante Virginia«, gibt er offen zu. »Sie sagte, es gibt keine
sichere Möglichkeit, im Vorfeld zu wissen, wer die Böse ist, Zeichen hin oder her. Sie sagte, die Zeit wird es weisen.«
    Sein Wissen überrascht mich, aber angesichts dieser klugen Worte gibt es nichts weiter zu sagen. »Sie hat vermutlich recht, Henry. Ich nehme an, wir müssen abwarten.« Ich wende mich zum Gehen.
    »Ich habe dich trotzdem lieb, Lia«, ruft er mir nach. »Bis die Zeit es weisen wird, meine ich.«
    Ich drehe mich zu ihm um und lächle, liebe ihn in diesem Moment mehr denn je. »Bis die Zeit es weisen wird, Henry, und darüber hinaus. Ich habe dich auch lieb.«
     
    »Wie sollen wir hier bloß irgendetwas finden, Lia? So viele Bücher habe ich noch nie gesehen, nicht einmal in Wycliffe!« Luisa dreht sich von dem Bücherregal weg, lehnt sich dagegen und schlägt entgeistert ihre

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