Die Prophezeiung der Seraphim
abseits des Schlosses lag und von einem verwilderten Park umgeben war, der vor neugierigen Blicken schützte. Auch das dazugehörige Dorf hatten sie umfahren, damit niemand auf ihre Ankunft aufmerksam wurde.
So leise wie möglich näherten sie sich der Eremitage, die dunkel und verlassen dalag. Im Schein der Laterne, die Plomion vor ihnen hertrug, während sie zur Eingangstür liefen, konnte Julie nur erkennen, dass das Haus zwei Stockwerke besaß und über und über mit Stuck aus Muscheln verziert war, wodurch es wie die Behausung eines Meergottes wirkte.
Plomion, der weiterhin so genannt werden wollte, erzählte, während sie in das Haus traten und das Erdgeschoss inspizierten, dass er in der Eremitage schon früher an seinen wissenschaftlichen Versuchen gearbeitet habe. Er war überglücklich, als er feststellte, dass alle Geräte und Werkzeuge noch vorhanden waren, wenn auch von einer dicken Staubschicht bedeckt.
»Das bedeutet, dass wir hier unsere Ruhe haben werden«, stellte er fest. »Offensichtlich kümmert sich niemand mehr um das Gebäude.«
Nach einer ungemütlichen Nacht auf klammen Matratzen stellten sie am Morgen fest, dass das Haus in überraschend gutem Zustand war, obwohl seit Jahren niemand mehr hier gewohnt hatte. Lediglich ein muffiger Geruch hing in den Räumen, den Julie zu vertreiben suchte, indem sie alle Fenster weit öffnete und die Matratzen in die Sonne legte.
Plomion machte sich sofort daran, die Anleitung zum Bau des geheimnisvollen Geräts zu entschlüsseln. Während er von einem wachsenden Haufen aus Papier umgeben im Wintergarten saß, den er zu seinem Arbeitsplatz erkoren hatte, beschäftigten sich Julie und Fédéric damit, die Instrumente und Werkzeuge zu reinigen und zu polieren.
Nicolas blieb wortkarg und hielt sich meist in seinem Zimmer im ersten Stock auf, wohl, um seinem Vater nicht begegnen zu müssen. Julie machte sich Sorgen um ihn und war versucht, Plomion vom Biss des Cherubs zu erzählen. Doch als sie mit Nicolas darüber sprechen wollte, verbot er es kurzerhand und schickte sie fort.
Bedrückt kehrte sie in den Wintergarten zurück, wo Plomion nicht einmal zum Essen, das Fédéric bei einem Bauernhof besorgt hatte, seine Arbeit unterbrach. Wie wahnsinnig kritzelte er einen Bogen nach dem anderen voll, schimpfte vor sich hin und raufte sich die Haare. »Dein Vater macht es mir schwer«, klagte er. »Diese Verschlüsselung ist derart kompliziert …« Auf einmal griff er sich an den Kopf. »Hat er etwa die Vignère-Chiffre benutzt?« Ohne weiter auf Julie zu achten, beugte er sich wieder über die Zeichnung mit den unverständlichen Notizen. Von seinem Gemurmel verstand sie nur »der Schlüssel« und »irgendwo versteckt«.
Julie ließ ihn mit seinen Berechnungen alleine und gesellte sich zu Fédéric, der an der Eingangstür auf sie wartete. Zusammen gingen sie in den Garten hinaus. Es wurde langsam dunkel und die Vögel waren bereits verstummt. In den verwilderten Hecken stiegen Schatten auf und Julie fröstelte. Sie konnte den Herbst schon riechen und fragte sich, wo sie dann sein würde.
Sie lehnte sich neben Fédéric an die sonnenwarme Mauer, ihre Schultern berührten sich. Keiner von ihnen sprach, nur ihre Köpfe neigten sich zueinander, bis sie sich berührten. Julies Bauch fing zu kribbeln an, sie drehte den Kopf, dann streiften ihre Lippen Fédérics. Sie waren trocken und rissig, aber das machte nichts. Es war wunderschön, ihm so nahe zu sein. Julie umschlang seinen Nacken, um ihn noch enger an sich zu ziehen.
Wie kam es, dass derselbe Fédéric, den sie von klein auf kannte, plötzlich so aufregend fremd war? Kein Junge mehr, sondern ein junger Mann, der sie küsste, bis sie beide außer Atem waren.
»Mir ist ganz schwindlig«, murmelte Julie atemlos. Sie lehnte sich zurück und blickte nach oben. Kurz blitzte über ihr das helle Oval eines Gesichts auf, gerade noch erkennbar in der Dämmerung. Nicolas. Das Gesicht verschwand, doch etwas fiel von oben herab und landete neben ihren Füßen wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln: Das Buch, in dem er den ganzen Tag gelesen hatte.
»O nein!« Sie stemmte die Hände gegen Fédérics Brust, der sie verwirrt ansah. Julie deutete nach oben. »Er hat uns beobachtet«, flüsterte sie.
»Wen kümmert’s?« Fédéric rieb sich den Nacken.
»Du weißt doch, was …«, begann sie und verstummte.
»Was hat das mit uns zu tun?« Fédéric wollte sie wieder an sich ziehen, aber Julie entwand sich seinen
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