Die Prophezeiung der Seraphim
Händen zitterte.
»Ich würde sagen, das kommt ganz auf die Mutter an. Aber was interessiert es Euch? Wisst Ihr etwa, wo mein Vater steckt?«
Plomion atmete tief ein und drehte sich um. »Ja, das weiß ich. Er steht vor dir.«
Nicolas taumelte zurück, als hätte man ihm einen Stoß gegen die Brust versetzt. Er starrte Plomion an, dann sagte er: »Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wie du aussahst.«
»Anders.« Plomion machte einen Schritt auf Nicolas zu. »Ich habe mein Äußeres älter gemacht, damit ich nicht erkannt werde.«
Nicolas atmete heftig. Julie hatte den Eindruck, dass sich in ihm etwas zusammenbraute, das jeden Moment mit schrecklicher Gewalt hervorbrechen würde. Sie ging rasch zu ihm und legte eine Hand auf seinen Arm.
»Lass mich.« Er schüttelte sie ab und ballte die Fäuste. »Du lebst hier, einen Tagesritt entfernt von unserem Schloss, ohne jemals von dir hören zu lassen?« Nicolas schrie beinahe.
Plomion – nein, der Comte d’Ardevon – hob hilflos die Hände.
»Deine Mutter durfte nicht wissen, dass ich mich noch in Frankreich aufhielt.«
Nicolas lachte höhnisch. »Hattest du etwa Angst vor ihr?«
»Hör mir doch zu. Ich war einer der wenigen Seraphim, die den Aufstand gegen Cal Savéan wagten und der Einzige, der entkommen konnte. Zusammen mit Jacques Lagarde und seiner Frau, Julies Pflegeeltern, habe ich all die Jahre daran gearbeitet, den Erzengel zu stürzen. Das durfte ich nicht gefährden, indem ich Verbindung zu dir aufnahm.«
»Ausreden!«, schrie Nicolas. »Das sind alles nur Ausreden!« Seine Augen glänzten, er riss die Tür auf und rannte hinaus. Julie wollte ihm folgen, aber Fédéric hielt ihre Hand fest. »Hörst du etwa Schritte auf der Treppe?«, flüsterte er grinsend. »Er steht draußen und wartet darauf, dass wir ihn wieder reinbitten.«
»Ist diese Geschichte wahr?«, wandte sich Julie an Plomion.
Er ließ den Kopf sinken. »Ja, leider.« Dann setzte er sich wieder auf die Truhe, als wäre er auf einmal sehr müde. »Als Savéan sich zum Erzengel ausrief und verkündete, nun würden die alten Zei ten wiederkehren, wusste ich, dass ich etwas dagegen unternehmen musste. Ich habe auch versucht, Elisabeth davon zu überzeugen, aber sie war wie besessen von ihm. Ich musste Nicolas zurücklassen. Er war noch so klein, und ein Kind ist doch immer am besten bei seiner Mutter aufgehoben, oder nicht?« Er sah Julie an, als erwartete er Absolution von ihr.
»Ihr habt getan, was Ihr für richtig hieltet«, sagte sie vorsichtig. »Aber Nicolas hat sehr unter seiner Mutter gelitten. Sie verachtet ihn, weil er keine magischen Kräfte besitzt.«
»Das wusste ich nicht«, murmelte Plomion.
»Redet mit Eurem Sohn«, schlug Fédéric vor, aber der Seraph schüttelte den Kopf.
»Er würde mir nicht zuhören. Ich kann es ihm nicht einmal verübeln. Und es gibt wichtigere Dinge als private Unstimmigkeiten.« Er nahm Jacques Lagardes Plan wieder auf, der auf den Dielen lag, und betrachtete ihn eingehend.
»Was ist es?«, fragte Julie begierig.
Plomion wiegte den Kopf. »Genau kann ich es dir noch nicht sagen, Jacques hat immer ein Geheimnis daraus gemacht. Die Notizen sind zum Großteil chiffriert; dein Vater hatte keine Zeit mehr, mir den Schlüssel zukommen zu lassen. Aber ich denke, ich kann ihn entziffern, allerdings bräuchte ich einige Tage Zeit.«
»Die haben wir aber nicht«, sagte Julie und erzählte ihm von dem Angriff der Cherubim. »Wir glauben, dass mein Bruder sich der Comtesse angeschlossen hat.«
»Wie sieht die Kutsche dieser Comtesse eigentlich aus?«, fragte Fédéric, der sich ans Fenster gestellt hatte.
»Dunkelrot, mit goldenen Verzierungen auf dem Dach«, antwortete Julie. »Warum willst du das wissen?«
»Weil so eine Kutsche gerade vor dem Haus hält.« In diesem Moment ertönte über ihnen auf dem Dach ein lautes Krachen. Dann noch einmal. Und wieder.
Es klang, als regnete es Felsbrocken. Julie, Fédéric und Plomion wechselten einen kurzen Blick, dann packte der Seraph eine Tasche und wischte mit einer Armbewegung alles, was sich auf dem Arbeitstisch befand, hinein. Etwas scharrte über das Dach, dann flogen Ziegel am Fenster vorbei und zerschellten unten auf dem Pflaster. Einige landeten dem dumpfen Klang nach auf dem Dach der Kutsche.
»Ich hoffe, die alte Hexe kriegt einen ab«, keuchte Plomion. Jetzt hörten sie über ihren Köpfen Holz splittern, einer der Dachbalken bekam einen Riss. Plomion klappte seine Tasche zu, dann
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