Die Prophezeiung der Seraphim
unvermittelt Gesichter auftauchten: Gabrielle, Jacques, ein kleines Mädchen, in dem sie sich selbst erkannte. S ie hatte den Eindruck, mit hoher Geschwindigkeit einen Abhang hinabzugleiten, in bodenlose Tiefe zu stürzen – gleichzeitig fühlte sie noch immer Nicolas’ Mund auf ihrem eigenen. Gerade als sie glaubte, ohnmächtig zu werden, lösten sich seine Lippen plötzlich, und im selben Moment verschwanden die farbigen Wirbel.
Julie holte tief Luft, wie jemand, der zu lange unter Wasser gewesen ist. Jetzt konnte sie auch wieder richtig sehen: Nicolas kauerte vor ihr im Gras, hielt sich den Kopf und wiegte den Oberkörper hin und her. Als er den Blick hob und Julie ansah, zuckte sie zurück: Seine Augen leuchteten in dem entsetzlichen glühenden Weiß, das sie bereits bei seiner Mutter gesehen hatte. Er war nicht mehr der liebenswürdige, etwas eingebildete Nicolas, den sie kannte: Vor sich sah sie ein Monstrum, das Böse, das seine Maske abgelegt hatte. Julie stieß einen erstickten Schrei aus, rappelte sich auf, so schnell es ging, erklomm die Uferböschung und rannte zurück ins Lager.
Erst als sie die ersten Zelte erreicht hatte, wagte sie stehen zubleiben und einen Blick zum Fluss zurückzuwerfen, doch Nicolas war nirgendwo zu sehen. Inzwischen war es tiefe Nacht, zahllose Sterne standen über dem Wald, und die Feuer vor den Zelten glommen nur noch schwach.
»Du läufst ja, als wär der Teufel hinter dir her!«, rief ihr einer der Schausteller scherzhaft zu. Der Mann ahnte ja nicht, wie recht er damit hatte. Sie eilte weiter, bis sie Javiers Zelt erreichte. Der Messerwerfer besserte gerade im Licht mehrerer Fackeln die Wurfwand aus und sah erstaunt auf, als Julie außer Atem und vollkommen aufgelöst auf ihn zukam. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie stolperte an ihm vorbei ins Zelt. Erst dort fühlte sie sich sicher.
Sie sank auf die Truhe und versuchte zu verstehen, was soeben passiert war. Ihr Herz klopfte in ihrer Kehle, und ihre Lippen brannten noch von Nicolas’ Küssen. Sie wollte nicht weinen, aber der Druck in ihrem Inneren war zu heftig: Sie verbarg das Gesicht in den Händen.
»Ho Mädchen, was ist denn los?« Javier duckte sich ins Zelt und hockte sich vor ihr nieder. Er nahm ihre Hände und streichelte sie, rieb sie zwischen seinen Pranken, als wollte er sie wärmen. Es war Julie peinlich, dass er sie so sah.
»Wer hat meine Gehilfin so erschreckt?« Javiers dichte Augenbrauen zogen sich zusammen, seine Schnurrbartspitzen bebten. »Der Lumpenhund bekommt es mit mir zu tun, Javier Alvarez García, dem besten Messerwerfer nördlich des Äquators und einstigen Leibwächter des Ali Khan!«
Julie musste unter Tränen lächeln. »Kein Grund, jemanden umzubringen«, brachte sie heraus, atmete tief durch und wischte sich die Wangen. Javiers Augen ruhten so wohlwollend auf ihr, dass sie ihm erzählen musste, was passiert war: »Nicolas …«
Javier fuhr auf: »Was hat er getan? Den Burschen werde ich mir vorknöpfen, so wahr ich García heiße!« Er machte Anstalten hinauszustürmen, aber Julie rief ihn zurück.
»Das war es nicht, also, er hat mich geküsst …, aber das wollte ich eigentlich, nur war er auf einmal ganz verändert …«
»Du musst wirklich verliebt sein, wenn du auch noch Entschuldigungen für ihn findest!«, schnaubte Javier.
»Nein, es war nicht so, er schien auf einmal nicht mehr er selbst …« Julie zog eine verzweifelte Grimasse und hob die Hände. »Ich kann es dir nicht erklären, du würdest mich für verrückt halten.«
»Du könntest es aber versuchen«, schlug er vor.
Julie schüttelte den Kopf. »Ich würde mich gerne schlafen legen, mein Kopf tut sehr weh.«
»Leg dich ruhig hin.« Javier stellte sich breitbeinig am Zelteingang auf. »An Javier Alvarez García kommt niemand vorbei.«
Ruben hätte um nichts in der Welt seine neue Arbeit aufgegeben, obwohl der alte Nowak eine wahre Pest war. Den ganzen Tag hinkte der Alte hinter ihm her, schimpfte über seine Faulheit und sorgte dafür, dass er sich nicht einen Moment ausruhen konnte.
»Ich füttere dich nicht aus Menschenfreundlichkeit durch!« Nowak röchelte und bekam einen seiner ekelhaften Hustenanfälle, während derer er gelben Schleim ins Gras spuckte. Ruben konnte nicht fassen, dass dieser Widerling eine Tochter wie Olga hatte.
Am ersten Tag hatte er sie hochnäsig gefunden, bis er merkte, dass sie nur ein wenig schüchtern war. Olga war klein wie ein Rotkehlchen und genauso flink.
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