Die Prophezeiung der Seraphim
sagte Julie verstimmt. Es war so schön gewesen, als Nicolas sie geküsst hatte. Warum hatte er danach diese sinnlose Auseinandersetzung begonnen?
»Ich bin müde«, sagte sie und stand auf. Nicolas reichte ihr galant den Arm, als sie von dem Stein hinunterkletterten. Sie fanden nicht gleich eine geeignete Stelle, um die Böschung zu erklimmen und folgten dem Verlauf des Flussbetts. Zuerst gingen sie in einigem Abstand nebeneinander her, aber dann näherte sich Nicolas und legte Julie wieder einen Arm um die Schultern. Unwillkürlich versteifte sie sich. Sie war immer noch missgelaunt, doch Nicolas bemerkte es entweder nicht oder es war ihm gleichgültig, denn er ließ den Arm, wo er war.
Gerade als sie sich aus seiner Umarmung winden wollte, hörte sie ganz in der Nähe ein Plätschern. Nur wenige Schritte vor ihnen kniete Fédéric im Mondschein am Ufer und wusch sich. Er richtete sich auf, und als er sie und Nicolas erkannte, sah er Julie mit fassungsloser Miene an. Gleich darauf verschloss sich sein Gesicht und er stand auf.
»So ist das also«, sagte er tonlos, nahm sein Hemd, das über einem Gebüsch hing, und streifte es über. Dann drehte er sich um und stapfte die Böschung hinauf.
Sollte er doch schmollen. Julie wischte das schlechte Gewissen beiseite, das sie vollkommen ungerechtfertigt überfiel, als sie Fédéric über den Rand der Flussböschung verschwinden sah. Sein Kuss war nicht echt gewesen, sagte sie sich. Er hatte keinen Anspruch auf sie, und das würde sie ihm und sich selbst auf der Stelle beweisen.
»Bleiben wir doch noch ein bisschen«, sagte sie, setzte sich ins Gras und klopfte neben sich auf den Boden. Nicolas sah auf sie herunter, es schien, als wollte er etwas sagen, doch dann ließ er sich schweigend nieder. Julie rückte dicht an ihn und legte ihren Kopf wieder an seine Schulter wie vorher.
Nicolas strich über ihren Rücken, dann liebkosten seine Fingerspitzen ihr Ohr, was sie unwillkürlich erschauern ließ. Aber weshalb sagte er nichts? Seine Augen lagen im Schatten und sie konnte ihren Ausdruck nicht erkennen. Als er sich zu ihr neigte und ihren Hals küsste, hielt sie den Atem an. Offensichtlich wusste er genau, was er tat – bestimmt besaß er bereits einige Erfahrung auf diesem Gebiet. Zwar kam es ihr seltsam vor, dass er noch immer schwieg, doch sie wollte den Zauber nicht zerstören und sagte ebenfalls nichts.
Nun wurden Nicolas’ Lippen fordernder, sein Griff um ihren Nacken fester. Er zog sie noch näher zu sich und sie hörte, wie heftig er atmete. Etwas daran machte ihr Angst, aber zugleich genoss sie seine Küsse, die sich zu sanften Bissen wandelten. Sie legte den Kopf zurück und seufzte, das Geräusch klang ihr fremd in den Ohren. Was geschah mit ihr? Eine Gier, die sie bei Fédéric nur ganz leise verspürt hatte, stieg machtvoll in ihr auf. Wie von selbst legten sich ihre Hände auf Nicolas’ Brust, fuhren in die Lücken zwischen den Knöpfen seines Hemdes und strichen über seine nackte, glatte Haut. Ein leises Grollen kam aus seiner Kehle. Sein Haar kitzelte ihr Kinn, als seine Lippen über ihr Schlüsselbein glitten. Gleichzeitig streifte seine andere Hand ihr Bein entlang. Jetzt waren seine Lippen auf ihrem Mund, der sich wie von selbst öffnete. Nicolas’ Zunge spielte mit der ihren, und wieder hörte sie sich seufzen. Es war aufregend und furchteinflößend zugleich, was mit ihr geschah. In ihrem Inneren wusste sie genau, dass sie nicht tun sollte, was sie tat. Sie sollte ihm nicht das Hemd aufreißen und ihre Lippen auf seine Brust pressen. Sie sollte nicht zulassen, dass er mit einem Finger unter die Kante ihres Mieders fuhr. Aber sie konnte nicht anders, es war, als hätte etwas Fremdes sie erfasst.
Nicolas’ Griff um ihren Nacken wurde so stark, dass es schmerzte, und plötzlich überschritt sie die Schwelle zur Angst. Das waren keine zärtlichen Liebkosungen mehr.
»Du tust mir weh«, brachte sie mühsam heraus, doch er reagierte nicht. Er schien sie nicht einmal zu hören. Wurden alle Männer so, wenn sie begehrten? Jetzt versuchte Julie, sich ihm zu entwinden, aber er war viel stärker als sie. Sie umklammerte sein Handgelenk hinter ihrem Kopf und versuchte vergeblich, seinen Griff zu lösen. Als sie um Hilfe rufen wollte, presste er seinen Mund so fest auf ihren, dass sie nicht einmal mehr schreien konnte. Ihr wurde schwindlig und obwohl sie Nicolas spürte, sah sie ihn nicht mehr. Vor ihren Augen kreisten farbige Wirbel, aus denen
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