Die Prophezeiung der Seraphim
Moment, um sich auf den veränderten Ton einzustellen, dann sagte sie: »Wir üben den ganzen Tag, aber ich muss ja nicht viel tun, außer stillzuhalten … Trotzdem wird mir ganz flau im Magen, wenn ich daran denke.«
»Du solltest das nicht tun.« Nicolas widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Striegel, mit dem er wieder den Pferderücken entlangfuhr.
»Hast du etwa Angst um mich?«, neckte ihn Julie.
»Mir gefällt nicht, dass du dich vor Publikum produzierst wie eine Zigeunerin. Das gehört sich nicht.«
»Was soll das nun auf einmal?« Julie stemmte die Arme in die Seiten. »Ich bin im verrufensten Viertel von Paris aufgewachsen, und da soll ich mir zu fein sein, mit einem Messerwerfer aufzutreten?«
Abrupt wandte sich Nicolas zu ihr um. »Du hast immer noch nicht begriffen, wer du bist. Du gehörst zu den Unsterblichen, zu den ersten Wesen, denen der Schöpfer Leben einhauchte!«
»Na und? Ich habe nicht darum gebeten – und an Gott glaube ich nicht.«
»Ich spreche nicht vom Gott der Christen. Ich spreche von Phanes, dem Herrscher des Ursprünglichen Reichs. Und du bist sein Geschöpf, ob du willst oder nicht.«
»Wovon redest du eigentlich?«
»Von deiner Abstammung«, erklärte Nicolas ärgerlich. »Auch wenn du gerne so tust als wärst du ein gewöhnliches Mädchen aus dem verrufensten Viertel von Paris – das bist du nicht! Das musst du begreifen.«
Er räumte den Striegel in eine Holzkiste und legte Julie den Arm um die Schultern. Es war das zweite Mal, dass sie so neben einem Mann ging, und es gefiel ihr gut. Sie fühlte sich behütet, und Nicolas war so groß, dass sie ihren Kopf genau an seine Schulter lehnen konnte.
Er führte sie hinunter zum Fluss, wo das Wasser leise über die Steine in der Strömung plätscherte. Julie setzte sich auf einen Uferfel sen, der noch immer die Wärme des Tages abstrahlte. Sie stützte sich mit den Armen ab, legte den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel auf, der ein tiefdunkles Blau angenommen hatte und an dem bereits die ersten Sterne leuchteten. Das Licht des Vollmonds, das durch eine Schneise zwischen den Bäumen fiel, tauchte alles in ein unwirkliches Licht. Plötzlich spürte sie Nicolas’ Finger in ihrem Nacken und ein kleiner, angenehmer Schauer lief ihr über den Rücken. Er setzte sich neben sie und zog sie sanft zu sich. Julie schnup perte unauffällig an ihm. Wie konnte jemand nur so köstlich duften?
»Auch die Seraphim haben ihre Legenden«, begann er, während sie sich an ihn schmiegte. »Es sind alte Geschichten, wahr oder nicht, aber wir glauben an sie, weil sie uns sagen, wer wir sind und woher wir kamen.«
Julie bemerkte, dass er sich zum ersten Mal mit einschloss, wenn er von den Seraphim sprach.
»Phanes, der Leuchtende, war der erste Gott, so sagt man, der dem Weltenei entstieg, und er ist es, der alles Leben erschaffen hat. Die Seraphim waren einst die herrlichsten Geschöpfe, die Phanes je erschuf, und deshalb machte er sie zu Wächtern über das Ursprüngliche Reich. Erst als sie sich gegen ihn erhoben, nahm er ihnen die Flügel und verbannte sie in die Menschenwelt. Um Rache zu nehmen, machten die Seraphim sich Phanes’ liebste Kreaturen untertan: die Menschen.«
»Aber dann begannen die Engel die Menschen zu lieben«, warf Julie leise ein.
»Nicht alle. Aber wie auch immer: Es bedeutet, dass du mehr bist als ein gewöhnliches Mädchen. Du gehörst zu den mächtigsten Geschöpfen dieser Welt, und es tut mir weh, dich als Gehilfin eines Messerwerfers zu sehen!«
Julie antwortete nicht gleich, sondern dachte über Nicolas’ Worte nach. Stand sie wirklich über den Menschen nur weil sie besondere Fähigkeiten besaß? Noch immer fiel es ihr schwer zu glauben, dass die Seraphim einst Flügel gehabt hatten, es klang zu märchenhaft. Von Jacques Lagarde hatte sie gelernt, dass Mythen und Religionen nur Manifestationen der menschlichen Seele waren, die etwas benötigte, worauf sie hoffen konnte. Und obwohl sie nicht mit Nicolas streiten wollte, sagte sie: »Aber das sind nur alte Geschichten, das hast du selbst gesagt. Und ganz sicher werden sie mich nicht davon abhalten, mit Javier aufzutreten. Erstens verdienen wir dadurch etwas Geld, das wir sicher noch gut gebrauchen können, und außerdem macht es mir Spaß.«
Nicolas seufzte, doch seine Finger strichen weiter sanft über Julies Hals. »Ich hätte wissen sollen, dass du dir nichts sagen lässt. Aber erwarte nicht, dass ich mir das auch noch ansehe.«
»Wie du willst«,
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