Die Prophezeiung der Seraphim
sich neben sie und stützte die Stirn in die Hand.
»Was war das für ein Gefühl?« Julie zog die Decke etwas fester um sich.
»Ich dachte, es zerreißt mich. Diese Gier … es war kein Begehren, sondern etwas anderes.« Er schloss die Augen, und Julie verspürte den Wunsch, ihm über die stoppelige Wange zu streichen.
»Irgendetwas geschieht mit mir«, sprach er flüsternd weiter. »Seit einiger Zeit kann ich nachts sehen, als wäre es Tag. Ich kann die Käfer durch das Gras kriechen hören und was in großer Entfernung gesprochen wird. Meine Muskeln sind kräftiger geworden – ich kann die Pferde Flajollets ohne Anstrengung hochheben. Mein Leben lang habe ich darauf gewartet, dass sich eine magische Gabe in mir regt. Das, was nun mit mir geschieht, fühlt sich beinahe so an.«
»Du hattest Augen wie deine Mutter«, sagte Julie.
Nicolas wandte ihr den Blick zu. »Ich werde niemals so sein wie sie!«, sagte er heftig. »Ich will dir kein Leid zufügen, Julie. Was, wenn es wieder geschieht?«
Sie strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich glaube, es lag an dem Kuss. Wir sind uns zu nahe gekommen.«
»Dann darf das nie wieder passieren«, sagte Nicolas.
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Vor den Toren von Rennes,August 1789
N icolas hält sich fern von mir, Fédéric will nichts mehr von mir wissen und mein Bruder starrt diese Olga an wie ein Mondkalb, statt mit mir zu überlegen, wie wir am schnellsten nach St. Malo kommen.« Julie sprach laut, um sich Luft zu machen, obwohl es nicht nötig war, denn Songe aalte sich nur wenige Schritte entfernt auf einem Mäuerchen.
»Wie kannst du so ruhig in der Sonne liegen, während alles schiefgeht?«, klagte sie weiter. »Ich habe das Gefühl, wir verschwenden unsere Zeit, während der Erzengel und die d’Ardevon in aller Ruhe Pläne schmieden können.«
Songe rieb ihren Kopf an einem herausstehenden Stein und schnurrte.
»Wir hätten uns dieser Truppe nie anschließen sollen.« Julie biss auf ihre Unterlippe. »Wir kommen viel zu langsam voran. Aber sonst wären wir in den Wäldern verhungert. Hörst du mir eigentlich zu?«
Songe ließ davon ab, nach ihrer Schwanzspitze zu haschen, und sah Julie an. Natürlich höre ich dir zu.
Und kannst du mir bitte auch sagen, was ich machen soll? Von selbst fiel Julie in die vertraute Art, sich mit Songe auszutauschen. Ich bin es leid, dass immer ich entscheiden soll, was als Nächstes zu tun ist!
Songe spazierte mit erhobenem Schwanz das Mäuerchen entlang und sprang auf einen Torpfosten. Es würde vielleicht helfen, wenn du gelegentlich jemanden um Rat fragen würdest.
Was soll denn das heißen? Julie verschränkte die Arme und rutschte von dem Meilenstein, auf dem sie saß. Nur wenige Getreidefelder weiter ragten die Stadtmauern von Rennes auf, das die Gauklergruppe am Vortag erreicht hatte. Man hatte den Schaustellern einen Platz vor den Toren zugewiesen, wo sie ihr Lager aufbauen konnten und wo abends auch die Vorstellung stattfinden sollte.
Julie war sofort in die Stadt gegangen, um Neuigkeiten aus Paris zu erfahren. Auf dem Marktplatz schwirrten Gerüchte umher wie Schmeißfliegen. Es war die Rede von furchtbaren, geflügelten Wesen, die ganz Paris in Angst und Schrecken versetzten –, was aber allgemein als Märchen abgetan wurde. Doch sie selbst hatte keine Zweifel, dass der Bericht den Tatsachen entsprach. Um nachdenken zu können, hatte sie daraufhin außerhalb der Stadt einen Spaziergang unternommen, und dieser einsame Platz zwischen den Feldern war genau der passende Ort, um sich Luft zu machen.
Wenn erst der Erzengel an der Macht ist, wird es der König nicht mehr lange sein, dachte sie nun. Wir müssen meine Mutter befreien, bevor es so weit kommt.
Deine Mutter?, fragte Songe. Deine?
Julie seufzte. Unsere. Meine und Rubens .
Nun, dann hätte er vielleicht auch ein Wörtchen mitzureden, wenn es darum geht, was ihr unternehmen sollt.
Ich traue ihm nicht ganz, immerhin hat er unter Elisabeth d’Ardevons Dach gelebt.
Weil sie ihn angelogen hat, vergiss das nicht! Und er ist dein Bruder.
Als Antwort pustete Julie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.Songe sprang auf den Weg, wobei sie eine kleine Staubwolke aufwirbelte. Es hatte seit Langem nicht geregnet, und wenn es weiter so trocken blieb, würde es auch in diesem Jahr wieder eine Missernte geben, dachte Julie, während auch sie sichauf den Rückweg zum Lagerplatz machte .
Es war Spätnachmittag und Javier wahrscheinlich schon auf der Suche nach ihr, denn er wollte
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