Die Prophezeiung der Seraphim
Keinen Augenblick hielt sie still, huschte hierhin, hüpfte dorthin und zwitscherte dabei ohne Unterlass, nachdem sie erst einmal Vertrauen zu ihrem neuen Gehilfen gefasst hatte. Sie wusste genau, was sie wollte, und scheuchte ihn fast ebenso sehr herum wie ihr Vater – mit dem Unterschied, dass Ruben sich für sie mit Freuden ein Bein ausgerissen hätte, nur damit sie ihn anlächelte.
Umso schwerer war es für ihn zu ertragen, wie grob der alte Nowak seine Tochter behandelte. Er schimpfte sie aus und ließ sie auf dem Seil üben, bis sie vor Erschöpfung beinahe abstürzte. Er trieb sie zu den gewagtesten Sprüngen an, wobei ihre Sicherheit ihm vollkommen gleichgültig zu sein schien. Ruben konnte kaum hinsehen, wenn sie sich oben auf dem Seil um sich selbst drehte oder zum tausendsten Mal hintereinander den Spagat übte, den ihr Vater ihr abverlangte.
»Du solltest nicht so gefährliche Kunststücke machen«, sagte Ruben zu ihr, als sie wieder einmal vor Erschöpfung beinahe ab gestürzt wäre. Olga saß quer auf dem Seil, schaukelte vor und zu rück und spitzte zu ihm hinunter.
»Aber er ist doch mein Papa«, sagte sie mit ihrer hellen Stimme. »Und wenn ich nicht die beste Seiltänzerin von allen bin, verdienen wir kein Geld, und dann müssen wir verhungern.«
Ruben hätte ihr gerne gesagt, dass sie viel zu schade war, um mit einer Gauklertruppe herumzuziehen. Aber er wagte es nicht, aus Furcht, sie würde mit ihm schimpfen, waren doch ein Lächeln oder ein freundliches Wort von ihr sein einziger Lebenszweck geworden. Er dachte kaum noch daran, dass sie eigentlich nach St. Malo unterwegs waren und nur eine begrenzte Zeit bei den Schaustellern verbringen würden. Wenn er abends auf seinem harten Lager hinter dem Zelt lag, träumte er davon, Olga freizukaufen. Wenn sie nur wüsste, dass er kein Knecht, sondern der Sohn des Erzengels war, würde sie ihn anders ansehen! Er stellte sich vor, wie er als reicher, prächtig gekleideter junger Herr vor Nowaks Zelt erscheinen, sie auf sein Pferd ziehen und dem Alten einen Beutel voll Gold hinwerfen würde. Mit derart angenehmen Gedanken schlummerte er ein, und in seinen Träumen sah er sich auf einem Thron sitzen, in ein schillerndes Gewand gehüllt, während ihm eine gesichtslose Menge zujubelte.
Julie erwachte am nächsten Morgen von lauten Stimmen. Es waren Nicolas und Javier, die sich vor dem Zelt stritten.
»Du kommst hier nicht rein, du Mistkerl«, sagte Javier gerade. »Sie hat mir alles erzählt.«
»Eben deswegen bin ich hier«, entgegnete Nicolas. »Julie soll selbst entscheiden, ob sie meine Erklärung anhören will.«
Julie streichelte Songe, die irgendwann in der Nacht zu ihr gekommen war und schnurrend auf ihren Beinen lag. Nicolas’ Stimme klang beinahe flehentlich, und in Javiers Anwesenheit würde er ihr sicher nichts tun. Und war es nicht so, dass er sie am Abend zuvor hatte gehen lassen?
Das stimmt , bemerkte Songe, nach dem, was du mir erzählt hast, hätte niemand ihn abhalten können, dir etwas anzutun .
Eigentlich weiß ich gar nicht, was genau passiert ist.
Wie wäre es, wenn du ihn fragst? Songe streckte sich und spreizte die Krallen.
Rasch fuhr sich Julie durch die Haare. »Javier, ich will hören, was er zu sagen hat!«, rief sie dann und setzte sich gerade hin, die Decke um sich gewickelt.
Nicolas trat ins Zelt. Seine Aureole war schwach, Julie spürte sofort, dass es ihm schlecht ging. Dennoch war sie froh, dass Javier ihm folgte und ihn nicht aus den Augen ließ. Der Messerwerfer zog einen Dolch und begann demonstrativ, sich die Fingernägel zu säubern.
Da tat Nicolas etwas völlig Überraschendes: Er sank vor Julie auf die Knie. »Was habe ich getan?«, murmelte er. Als er den Blick hob, waren seine Augen grau wie immer. Aber es lag Schmerz darin, all seine Überheblichkeit war verschwunden.
»Bitte hilf mir! Sag mir, was gestern Nacht geschehen ist. Wir saßen nebeneinander am Ufer, wir haben uns geküsst, aber darüber hinaus kann ich mich an nichts mehr erinnern. Da waren nur seltsame Bilder, wie ein Traum. Du warst da, aber auch Leute, die ich nicht kenne. Habe ich dir wehgetan?«
Sie wusste nicht, weshalb, aber sie glaubte ihm. Seine Verzweiflung war echt. Leise, damit Javier es nicht hörte, sagte sie: »Als wir … uns geküsst haben, warst du auf einmal ganz verändert. Ich habe auch Bilder gesehen. Farben und Gesichter.«
»Etwas kam plötzlich über mich …, ich konnte nicht dagegen ankämpfen.« Nicolas setzte
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