Die Prophezeiung der Steine
Die Abdrücke auf der rechten Seite waren leichter; er schonte seine verwundete Seite.
Vernünftig war das nicht, nur mit einem Stiefelmesser in der Hand einem Wolf nachzustellen. Sie würde von Glück reden können, wenn sie ohne schwere Verletzungen nach Hause kam. Sie würde schon von Glück reden können, wenn sie überhaupt nach Hause kam. Aber sie konnte ein verwundetes Tier nicht einfach qualvoll sterben lassen, auch wenn nicht sie es gewesen war, die es verletzt hatte.
Der braune Wolf war zum gegenüberliegenden Rand der Lichtung gehumpelt, wo Bramble am Ufer eines kleinen Wasserlaufs Sauerampfer gesammelt hatte. Das Tier war zu
sehr mit seinen Schmerzen beschäftigt, als dass es Bramble auch nur wahrgenommen hätte.
Als Bramble den Pfeil sah, den Wolf und das aus seiner Flanke tropfende Blut, schien der Wald zu verstummen. Die Waldwiese glänzte im nachmittäglichen Sonnenlicht. Um sie herum stieg ein schwerer, berauschender Duft auf, jener Geruch von erwachender Erde nach dem Ende der Schneeschmelze. Nur wie von weit entfernt nahm sie das Zanken der Steinschmätzer und das Plätschern des Wasserlaufs wahr. Ein Eichhörnchen sprang auf einer Ulme von Ast zu Ast und rüttelte die noch kahlen Zweige durch. Dann erstarrte es. Der Wolf blieb stehen, schaute über seine Schulter und sah Bramble zum ersten Mal. Diese wartete und wagte kaum zu atmen, hatte das Gefühl, als sei mit ihr der ganze Wald erstarrt.
»Da ist er! Seht ihr ihn? Lasst ihn nicht laufen!«
»Sei still, Idiot!«
Die Stimmen durchbrachen die Stille. Der Wolf verschwand in den Schatten einer Reihe von Kiefern. Schnatternd hüpfte das Eichhörnchen von Ulme über Weide zu Erle und war verschwunden. Bramble schaute sich rasch um. Die Männer des Kriegsherrn kamen näher. Es gab keinen Platz, wo sie sich hätte verstecken können, außer hoch oben in einem Baum. Sie ließ den Sauerampfer fallen und sprang auf den untersten Ast einer Eibe. Im Gegensatz zu der leichter zu erklimmenden Weide daneben, deren Äste jedoch nur Blütenkätzchen aufwiesen, würde das dunkle Geäst der Eibe sie verbergen.
Ohne sich um Kratzer zu kümmern, kletterte Bramble rasch hinauf und blutete an vielerlei Stellen, als sie endlich einen sicheren Hochsitz erreicht hatte. Sie packte eine Reihe von Eibennadeln und zerdrückte sie in den Händen, um ihnen den bitter riechenden Saft abzugewinnen. Diesen
verrieb sie dann auf dem Stamm unter sich, so weit sie ihn erreichen konnte, um ihre Fährte zu verwischen, für den Fall, dass sie Spürhunde dabeihatten, die ihr Blut sonst wittern würden.
Sie fragte sich, wen sie wohl jagten. Einen Verbrecher? Oder bloß jemanden, der sie schief angesehen hatte? Vielleicht jemanden, den der alte Ceouf, der Kriegsherr, nicht leiden konnte. Oder jemanden, der sich beschwert hatte? Hoffentlich war es keine Frau. Jeder wusste, was mit einer Frau geschah, die von den Männern des Kriegsherrn aufgegriffen wurde.
Es ärgerte sie, wie immer. Mehr noch, es versetzte sie in Wut. Die Kriegsherren gaben vor, die Menschen in ihrer Domäne zu beschützen, vor anderen Kriegsherren, natürlich, und einst vor Eindringlingen. Vielleicht hatten sie das früher auch tatsächlich getan. Doch vor einigen Generationen hatten die Kriegsherren der Elf Domänen Frieden miteinander geschlossen, und seitdem war es lediglich zu kleinen Scharmützeln an den Grenzen gekommen. Die Männer des Kriegsherrn waren nicht länger Soldaten, sondern bloß Strolche und Rüpel. Man ging ihnen aus dem Weg, zog ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich und spuckte, wenn sie fort waren, in die Abdrücke ihrer Stiefel.
So dürfte das nicht sein, dachte sie . Niemand sollte sich aus Angst vor denen verbergen müssen, die ihn eigentlich beschützen sollten.
Heute war sie glücklich gewesen, so glücklich wie seit Monaten nicht mehr, als ihre Schwester geheiratet hatte und nach Carlion gezogen war, der nächsten freien Stadt. Sie war wieder einmal in ihrem Wald gewesen, hatte sich an dem wiederkehrenden Frühling erfreut und sich für das Erwachen der Natur bedankt. Doch diese Männer brachten Tod und Schrecken mit sich, wie sie es überall taten.
In Brambles Brust brannte der Groll. Ein Teil von ihr hatte sich stets geweigert, Vernunft walten zu lassen, wie es ihre Eltern anmahnten. »Nur weil du sie nicht magst, wird die Welt sich nicht ändern«, hatten sie ein ums andere Mal gesagt. Sie wusste, dass sie Recht hatten. Natürlich wusste sie das, sie war ja kein Kind mehr oder eine
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