Die Prophezeiung der Steine
die Wahrheit. Ganz gleich, was später aus ihr wurde, ganz gleich, welche Leistungen sie mit Worten oder Waffen vollbrachte, als Kind war sie langsamer als die meisten anderen.
Vielleicht hat sie ja heimlich geübt; ohne ständige Übung kann man keine große Kämpferin werden. Sie war geheimnisvoll - nun, das weiß ja die ganze Welt. »Die Quelle der Geheimnisse« nannten sie sie in Parteg und standen bis auf halber Strecke nach Corpen an, um sich ihr anzuvertrauen. Aber ich nehme meine Geschichte vorweg.
Auf der anderen Seite lernte sie schnell, lernte lesen und schreiben, lernte mit Kräutern und Egeln zu heilen, lernte säen und ernten, kochen und weben. Das ganze Dorf lehrte sie, als wollten die Leute es wieder gutmachen, ihre Mutter gemieden zu haben, als diese mit dickem Bauch nach Hause kam und alle den Namen des Vaters kannten. Safred lernte schnell, außer wenn ich sie lehrte. Doch ich schwöre, dass ich sie unterrichtete wie meine eigenen Kinder und andere Dorfkinder auch.
Nun, die Zeit vergeht, ohne uns um Zustimmung zu bitten. Schon bald waren meine March und meine Nima in ihren
eigenen Häusern, und Safred und ich blieben allein zurück. Da hatte ich dann mehr Zeit für sie. Damals entdeckte ich das mit der Macht der Götter.
Zuerst schien es bloß eine Fähigkeit zu sein. Wenn sie ein Tier pflegte, sagen wir eine Milchkuh mit verhärtetem Euter, dann erholte sich die Kuh rasch. So etwas kann jedem geschickten Heiler gelingen. Die Samen, die sie säte, wuchsen schnell und kräftig, wie es bei jedem geschickten Bauern der Fall sein kann. Die Pferde, die sie pflegte, schlugen nie nach ihr aus, wie es bei jedem Zureiter mit leiser Stimme und ruhiger Art der Fall sein kann. Bloß war ihre Stimme gar nicht leise. Gewöhnlich jedenfalls nicht.
Dann brach sich Terin, der Sohn des Webers, das Bein, als er vom Kastanienbaum fiel. Es brach so, dass der Knochen spitz durch die Haut ragte. Und alle jammerten, denn eine solche Verletzung bedeutete, dass er aufgrund der Blutung fast sicher sein Leben verlieren würde, und wenn nicht das Leben, so doch sein Bein.
Ich stand ganz in der Nähe des Jungen, als er fiel, sodass ich es war, der ihn ins Haus des Knochenrichters trug. Safred folgte mir. Der Heiler - der es gewusst haben musste, erkannte ich später - setzte Wasser auf, langte in die von der Decke herabhängenden Kräuter, um einen Breiumschlag zu machen, und sammelte Holz für eine Schiene. Die Pflege des Jungen hingegen überließ er Safred.
Es war das erste Mal, dass ich sie singen hörte. Eigentlich ist singen nicht das richtige Wort dafür, wie diejenigen, die es gehört haben, euch bestätigen werden. Denn es klang fürchterlich, und ich sage euch die Wahrheit. Wie ein vor Wind knarrender Blasebalg.
Ich wollte ihr Einhalt gebieten, aber der Heiler legte mir die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. Safred legte dem Jungen die Hände auf die Schultern. Sie schaute ihm
mit jenem Blick ganz tief in die Augen, den ich von ihrer Mutter in Erinnerung hatte, und gab dann diese merkwürdigen Laute von sich. Terins Augen weiteten sich, und sein Kiefer fiel herab wie bei jemandem, der schläft. Dann legte sie ihm die Hände auf das Bein und richtete es ihm, so wie man einen Haarkamm zurücklegt, der einem verrutscht ist. So einfach war das. Der Junge gab keinen Laut von sich und verlor keinen einzigen Tropfen Blut dabei.
Bei allem, was ich später noch sah und lernte, war dies in meiner Erinnerung das Merkwürdigste. Das Bein des Jungen lag gebrochen und weiß auf dem Laken, der Knochen schien durch die Haut wie ein Fels, der aus dem Gras hervorbrach, aber es floss kein Blut, als wäre er bereits tot, obwohl er doch vor mir lag und atmete. Das war der sonderbarste Anblick, den ich im ganzen Leben hatte. Als der Knochenrichter das Bein verbunden, einen Breiumschlag aufgelegt und sie mit dem Singen aufgehört hatte, wusste ich gar nicht, was ich sagen sollte.
Sie setzte sich, starrte zu mir hoch und erwartete mein Urteil. Ein Teil in ihr schien sich mit meiner Missbilligung abzufinden, der andere fürchtete sie.
»Deine Großmutter war eine Frau, die mit den Göttern verbunden war«, sagte ich. »Deine Mutter hat mir einmal erzählt, dass ihre Mutter als Zauberin geboren wurde. Ihr Vater hatte dies jedoch aus Angst, sie könne ihn oder seine Tiere mit einem Zauber belegen, aus ihr herausgeprügelt. Denn sie liebte ihn nicht und das zu Recht.«
An diesem Punkt rührte sich Safred und stand auf. Sie
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