Die Prophezeiung der Steine
war klein und musste aufschauen, um mir in die Augen zu sehen.
»Ich belege niemanden mit bösem Zauber«, sagte sie.
»Das hat sie auch nicht«, sagte ich. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Deine Mutter hätte sich gefreut, wenn
sie gesehen hätte, dass die Gabe ihrer eigenen Mutter doch weiter vererbt wurde. Zu einem guten Zweck.«
Sie errötete, so weit ich mich erinnere, zum ersten Mal. Danach, glaube ich, waren wir besser miteinander vertraut, und sie hatte weniger Geheimnisse vor mir. Dennoch musste sie Geheimnisse haben, ganz gleich, welche. Für sie gehörten sie dazu wie das Salz in die Suppe.
So wurden wir der großen Macht gewahr, die sie in sich trug. Es begann mit einem Hausierer, einem Wanderer, der schon früher in unser Dorf gekommen war, einem dunklen Mann - nicht mit finsterer Miene, sondern mit düsterem Geist. Er lächelte, doch unter dem Lächeln verbarg sich Schmerz. Nur wenige ertrugen es, sich länger mit ihm zu unterhalten, als es für den Abschluss ihres Geschäftes notwendig war. Dennoch kauften wir von ihm, weil nur wenige andere den Weg zu uns fanden, vielleicht auch aus Mitleid. Als Safred sechzehn war, kam der Hausierer zu unserem Haus, um mir neues Wolltuch aus dem Tal zu zeigen. Ich war nicht zu Hause. Diesen Teil der Geschichte erzähle ich so, wie er mir von dem Hausierer berichtet wurde. Er sagte, er sei gekommen und habe gerufen: »Gesegnet sei dieses Haus.« Safred trat vor die Tür und starrte ihn mit ihren grünen Heileraugen an.
»Komm herein«, beschied sie, ließ ihn sein Bündel ablegen, setzte ihm Rosmarintee auf und unterhielt sich mit ihm. Ich glaube, der Mann sehnte sich danach, zu reden. Vielleicht war das ja auch die ganze Heilung, die er benötigte. Safred sagte zu ihm: »Du trägst ein Geheimnis in dir.«
Das stimmte. Zwar weiß ich so wenig wie ihr, um welches Geheimnis es sich handelte, denn Safred war die tiefste Grube, die es jemals für Geheimnisse gab. Aber nachdem ihr ein Geheimnis erzählt worden war, brauchte der Erzählende es niemals mehr zu berichten. Jedenfalls hat der Hausierer
es ihr erzählt und sie dann als ein anderer Mensch verlassen. Vielleicht hat sie ihm einen Segen erteilt. Vielleicht genügte ja schon das schlichte Redenlassen. Vielleicht hat sie ihm, der sich selbst nicht verzeihen konnte, verziehen. Ich habe Safred nie ein Geheimnis erzählt, daher weiß ich nicht, was sie machte. Ich hatte kein Geheimnis vor ihr, denn sie kennt mich ja schon ihr ganzes Leben lang. Das bedauere ich, dass ich damals keine Geheimnisse hatte, die ich ihr hätte mitteilen können.
Nach dem Hausierer suchten weitere Menschen sie auf. Zunächst waren es bloß Leute aus unserem Dorf, Leute, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannten. Margerys Nackenschmerzen gingen weg, und Dalis’ Asthma verbesserte sich. Aber das waren nicht die richtigen Wunder. Der wahre Zauber bestand aus Güte. Immer wenn Safreds grüne Augen jemandem die Last eines Geheimnisses abnahmen, freute sich seine gesamte Familie mit ihm und war hinterher liebenswürdiger.
Manche Leute sagen, sie habe den Beichtenden ein Gelöbnis auferlegt, sich dem Menschen anzuvertrauen, den es am meisten betraf, oder dort Wiedergutmachung zu leisten, wo Wiedergutmachung fällig war. Was immer sie sagte, wurde befolgt.
Bald kamen die Leute auch von weither. Und manchmal, wenn Pilger im Haus bei Safred waren, hörte ich sie dieses schrille Lied singen. Aber nie hörte ich Worte, obwohl die Pilger manchmal schworen, sie hätten sich ihren Schmerz aus dem Leib geschrien.
Es war vorherbestimmt, dass ihr Vater davon erfahren sollte.
Ich weiß nicht, was ihr von Masil, ihrem Vater, dem Kriegsherrn gehört habt. Dass er tapfer und gut aussehend war? Stimmt. Dass er gewalttätig war? Stimmt erst recht.
Dass er barbarisch, irrsinnig, böse war? Stimmt vielleicht auch. Aber dass er dumm war, hat nie jemand behauptet.
Als er von den Wundern erfuhr, die in unserem Dorf vollbracht wurden, schickte er einen Boten, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Schon damals vermutete er, dass diese grünäugige Zauberin die Tochter einer bestimmten grünäugigen Frau war, die ihn durch Hexerei um etwas gebracht hatte, das er hatte behalten wollen, nämlich sein Herz, seine Männlichkeit und seine Kinder. Es heißt nämlich, dass Masil nach der Lady nie wieder einer anderen Frau beiliegen konnte, und das glaube ich auch.
Als der Bote kam, wusste ich, dass es soweit war. Denn auch mich hat noch nie jemand dumm
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