Die Puppe an der Decke
Samstag hatte in der Lokalzeitung ein Artikel über Leo gestanden. Der Mann im Piraten hatte sich geirrt, die Vernissage hatte schon am Freitag stattgefunden. Ein lokaler Rezensent bezeichnete die Ausstellung als »grenzüberschreitend« und hatte noch viele andere schöne Wörter, eine ganze Tirade aus dem Fremdwörterbuch, vielleicht hatte er sie in aller Eile aus einer geistreichen Hauptstadtzeitung ausgeschnitten. In einem Leserbrief hinten in der Zeitung schrieb ein »Mann, 73«, dass es nun für Leo an der Zeit sei, auch den Winter in Oslo zu verbringen.
Sie registrierte, dass der Brief einige Zeit vor der Vernissage geschrieben worden sein musste. Und dass die Redaktion ihn am selben Tag brachte, an dem der Bericht über die Ausstellung erschien. Damit kamen beide zu ihrem Recht. Mit dem Zeitungssterben sollte man sich keine Scherze erlauben.
Dass er nicht anrief, ließ sie den Entschluss fassen, seine Ausstellung zu besuchen.
Das Heringshaus war eines der drei Fischerhäuser, die seit dem 19. Jahrhundert überlebt hatten. In ihrer Erinnerung waren diese Häuser grau und unschön, jetzt aber waren sie renoviert worden. Sie hatten neue Fenster bekommen, die Dächer waren erneuert worden, die Häuser rostrot und Türen und Fensterrahmen moosgrün gestrichen. Die beiden zum Hafen gelegenen enthielten allerlei Speicherräume sowie ein Fischgeschäft und einen Andenkenladen. Im zum Marktplatz hin gelegenen war die Kultur untergebracht. Auf einer Tafel neben der Tür konnte sie sich über beträchtliche Aktivitäten unterrichten. Hier waren eine Theatergruppe, ein Silberschmied und eine Graphikwerkstatt tätig. Die Galerie Heringshaus füllte den gesamten ersten Stock.
Eine schmale, weiß gestrichene Treppe führte nach oben. Es roch nach Reinigungsmitteln und frischer Farbe. An den groben Bretterwänden hingen Fotos aus der Geschichte der Stadt, Segelschiffe im Hafen, der ursprüngliche Marktplatz, der Besuch König Oscars II. im Jahre 1881.
Dann stand sie in einer Schlachthalle. Das war ihr erster Gedanke. Dass sie in einer Schlachthalle stand. Der Raum war überraschend groß, die Wände weiß gestrichen, und unter der Decke hingen Leuchtröhren, die für hartes elektrisches Licht sorgten.
Und Leo widmete also sein Leben einer Studie von Fleisch und Knochen, von ganzen und halben Kadavern, die an Eisenhaken und Ketten hingen, Kadavern in unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Er arbeitete mit großem Format, mehrere Bilder maßen zwei mal drei Meter, grobe Schichten von Ölfarben, sie stellte fest, dass die Kadaver in den Raum hereinragten, dass sie vor ihr hingen wie in einem Kühllager.
Es war unbehaglich. Die Temperatur im Raum schien zu sinken, sie glaubte, das Blut zu hören, das auf den Betonboden tropfte. Das rote Fleisch und die weißen Knochenreste vermittelten den Eindruck wehrloser Nacktheit, alles war abgeschält, buchstäblich bis aufs Mark. Auf einem großen senkrechten Bild hing ein kopfloses Pferd an den Hinterbeinen, abgehäutet, die blauweißen Därme wild durcheinander auf dem Boden. Eine Serie aus drei Bildern zeigte einen toten Hund auf dem Boden einer Fabrikhalle. Maschinen und Wände in Schmutziggelb, Grün, Blau. Der Hund liegt mit zerschnittener Kehle auf der Seite, in einer Lache aus geronnenem Blut. Auf dem zweiten Bild ist sein Bauch aufgeplatzt, das Blut ist jetzt ganz schwarz. Auf dem dritten Bild bedeckt eine feine Staubschicht das ganze Tableau, die Rippen ragen hervor, und die gelben Zähne grinsen nackt in den leeren Raum hinaus.
Jemand räusperte sich.
Rechts neben der Tür saß hinter einem Schreibtisch ein junger Mann.
»Es kostet dreißig Kronen. Und der Katalog hundertzwanzig.«
Sie reichte ihm hundertfünfzig. Nahm den Katalog und steckte ihn in die Manteltasche. »Viel Besuch?«
»Heute nicht. Aber bei der Eröffnung war alles vollgestopft. Er hat in der ersten Stunde gleich drei Bilder verkauft.«
»Darf ich auf den Direktor des Schlachthofes tippen?«
Er lachte. »Es waren Leute aus Oslo.«
Sie nickte und drehte ihre Runde. Leben, das zur Erde zurückkehrt. Auflösung. Stillstand. Ein großes Bild zeigte ein triefendes Stier-oder Kuhfell, das an einem Haken hing. Eine Maske.
Jemand betrat hinter ihr den Raum, eine Frau sagte, Herrgott, komm, wir gehen.
Sie ging auch.
Die wenigen Minuten, die sie in der Galerie verbracht hatte, hatten in ihr ein beklemmendes Gefühl hinterlassen. Sie wusste nicht warum, denn sie war sonst keine, der beim Anblick von
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