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Die Puppe an der Decke

Die Puppe an der Decke

Titel: Die Puppe an der Decke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingvar Ambjörnsen
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er hier unten in einem Ferienhaus, mitten im Winter? Was macht er, wenn er den Sommer über in Oslo ist?
    Vielleicht sollte ich mich darüber informieren, ehe ich mich bei ihm melde. Oder es lasse.
    Danach ging sie in den dunklen Garten hinaus und pinkelte auf die Kellerluke. Es war so lange her. Der Urin roch ein wenig, er floss so fröhlich am Holz hinab, und die Erde saugte ihn zwischen ihren Füßen auf.
    Die Kunst der Balance, dachte sie. Immer wieder habe ich mich nassgemacht, aber am Ende hatte ich es dann gelernt. Wenn mich jetzt jemand sieht. Niemand sieht mich. Damals hat mich niemand gesehen, niemand sieht mich jetzt.
    Sie war ein wenig beschwipst. Nur ein wenig. Es war schon halb zehn. Sie ging ins Haus und holte ihren Mantel; der Nebeltag war in einen klaren Winterabend übergegangen, schöne Luft, gerade kalt genug.
    Als sie den Hang hinab in die Stadt fuhr, dachte sie an den kontinuierlichen Zerfall von Körper und Geist, der im Grunde im Moment der Empfängnis einsetzt, in der Sekunde, in der feststeht, dass man unterwegs in eine Wirklichkeit ist, in der alle Ausgänge vom Tod bewacht werden. In den niedrigen Holzhäusern auf beiden Seiten saßen Menschen jeden Alters und starben langsam, während sie sich mit ihren Angelegenheiten beschäftigten. Egal, was sie sagten, egal, was sie taten. In den niedrigen Holzhäusern hatten andere vor ihnen gesessen, die Erde hatte sie längst verschlungen, oder das Meer, weder tiefe Gedanken noch pure Idiotie, alltägliches Geplapper oder großartige Reden hatten sie vor diesem endgültigen Nullpunkt retten können, der ihrer harrte. Hier gehe ich, halb betrunken vom Rotwein, und sterbe, während ich an meinen und an den Tod der anderen denke.
    Stina. Warum wollte sie über den Zaun, ehe das Schicksal oder der liebe Gott zum Halali bliesen? Was passierte eigentlich in den verschlossenen Räumen, die sie jetzt bewohnte? Sie war ein ängstliches Kind gewesen. Immer ein »was, wenn« oder »stell dir vor«, immer eine Katastrophe oder ein Schmerz am anderen Ende. Wenn Opa jetzt stirbt. Wenn wir nicht in den Himmel kommen, Rebekka!
    Ich war ihre Seelsorgerin, dachte sie. Aber eine verlogene Seelsorgerin. Ich habe immer behauptet, alles werde gut ausgehen. Aber es geht nicht gut aus. Es endet an einem Straßenrand oder in einer geschlossenen Abteilung. Es endet mit Pisse und Exkrementen, es endet, während wir vor Schmerz und Ohnmacht schreien, und jeden einzelnen guten Tag, den wir bekommen, sollten wir am Ende hassen, denn auch die Erinnerung daran soll uns noch genommen werden. Während wir wie Kinder umhertaumeln, im Boden graben oder Bälle werfen, macht ein anderes Kind irgendwo dasselbe, ein anderes Kind mit Butterbroten und blauen Flecken. Ein anderes Kind, das dich eines Tages in den Abgrund stürzen oder zu einem provisorischen Glück erheben wird. Oder umgekehrt. Ein anderes Kind, das du eines Tages töten oder mit dem zu leben du lernen musst. Aber Stina konnte weder ein anderes Leben nehmen noch ihr eigenes leben. Das Einzige, was sie schaffte, war, sich die Haare und die Zehennägel auszureißen.
    Über diese Hänge und durch diese Gassen sind wir gegangen. Ich vorweg, du hinterher. Und ich ließ das geschehen, ja, ich wollte das so, weil ich wusste, dass dir nichts Böses passieren durfte. Dass du das nicht ertragen würdest. Und das habe ich geglaubt. Auch ich war ein Kind und ich glaubte, dich aus allen Schatten herausheben zu können, die du sahst, wenn ich nur gut genug aufpasste, wenn ich dich dicht genug bei mir sein ließ.
    Was, wenn wir nicht in den Himmel kommen, Rebekka?
    Was, wenn wir ein ganzes Leben auf der Erde leben müssen, Rebekka!
    Sie hatte vergessen, wie öde und verlassen eine norwegische Kleinstadt abends sein kann. Sie lief durch die Straßen, ohne einem einzigen Menschen zu begegnen. Ab und zu glitt ein Wagen vorbei, die gelben Scheinwerferlichter ließen ihren Schatten über die Hauswände huschen, über Bürgersteig und Pflastersteine. Sie kam an Häusern vorbei, die so niedrig waren, dass sie zu den Menschen hineinschauen konnte, die dort vor dem Fernseher saßen und Kaffee tranken, sie saßen hinter Spitzengardinen, Begonien und Christsternen, und in ihrem eigenen Alltag existierten, es wirkte so unkompliziert und natürlich. Aber es war schwer, dachte sie, es grenzte an das Unmögliche. Es handelte sich um Gehirne, die Tag und Nacht arbeiteten, die die Bewegungen der Hände koordinierten, das Wechseln der Stimmung. Es war ein

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