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Die Puppe: Psychothriller (German Edition)

Die Puppe: Psychothriller (German Edition)

Titel: Die Puppe: Psychothriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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bemerken. Hundert Stellen, an denen eine Leiche für alle Zeit versteckt bleiben könnte.
    Er könnte Jacqui Kitson genau sagen, wo ihre Tochter Misty ist. Er könnte es und hat es nicht getan. Weil er jemanden beschützt. Jemanden, der ein bisschen Spielraum braucht. Ein bisschen Spielraum, sagt er sich. Nicht lebenslange Nachsicht. Bedeutet dieser Gedanke, dass es Zeit ist zu handeln? Es endlich hinter sich zu bringen?
    Er zieht die E-Zigarette heraus, schiebt die Patrone ein und saugt den künstlichen Rauch ein. Er nimmt das Ding aus dem Mund und betrachtet es. Scheiße. Das ist wirklich scheiße. Es fühlt sich immer noch an, als ob er vergiftet würde. Er zieht die Patrone ab und wirft sie durch das Gitter. Futter für den Bartenwal.
    Nach Hause zu fahren hat keinen Sinn. Lieber geradewegs ins Büro. Er nimmt Kurs auf seinen Wagen, den er in der Nähe geparkt hat. Über den Dächern sickert der Tag herein, dick und milchig. Wieder ein Tag. Die Kirche wird von Scheinwerfern angestrahlt, und ein oder zwei welke Blätter wirbeln in Spiralen um den Turm. Unvermittelt bleibt er stehen. Dreht sich langsam um und schaut durch das Tor auf den Friedhof. Er sieht die Papierkörbe, die speziellen Abfallbehälter für die Hundescheiße, die Kaugummiflecke auf dem Weg. Er sieht Plastikblumen auf Gräbern, grau von den Ausdünstungen der Stadt. Zwei marmorflankierte Gräber mit diesen glasigen grünen Kieseln, die sie anscheinend alle verwenden. Dahinter ist eine viktorianische Gruft mit einem betenden Engel, bemoost und bröckelnd.
    Jacqui sagt, Caffery habe keine Ahnung, wie es sei, keinen Leichnam zum Begraben zu haben. Da irrt sie sich. Er weiß genau, wie das ist. Tatsächlich war er sogar ein Meister auf diesem Gebiet. Als Winnie Johnson, die Mutter des vermissten Moor-Opfers, starb, ohne zu wissen, wo ihr Sohn begraben war, war Caffery nicht zur Arbeit gegangen und hatte stattdessen die ganze Zeit nur aus seinem Küchenfenster gestarrt. Er war jahrelang genauso hilflos gewesen wie sie und Jacqui. Jahrelang.
    In Cafferys Fall ist es kein Sohn und keine Tochter, sondern ein Bruder. Vielleicht behält er es deshalb so sehr für sich. Die restliche Welt versteht, dass man den Verlust eines Kindes niemals verwinden kann, aber den Verlust eines Bruders? Nach fünfunddreißig Jahren? Inzwischen hätte er darüber hinweg sein müssen. Es hat jede Menge Hinweise gegeben, jede Menge Spuren, denen er nachgegangen ist, doch keine hat ihn zu dem einen handfesten Beweis geführt: zu dem Leichnam. Wenn er seinen Bruder hätte begraben können, wäre dieses bohrende Gefühl vielleicht vergangen. Wäre diese Stimme, die ihn unaufhörlich verfolgt, verstummt. Er versteht Jacqui so viel besser, als sie ahnt.
    Er starrt den Engel an. Er kann es sich nicht erklären, aber er weiß, es ist das Grab eines Kindes. Er hebt die Hand, um das Tor zu öffnen, doch dann hält er inne. Stocksteif steht er da, mit klopfendem Herzen.
    Bring es endlich hinter dich, Jack. Verdammt noch mal, tu es.
    Patience und Stewart
    Normalerweise kann AJ völlig abschalten, wenn er die Klinik verlässt. Aber nicht heute. Als er heute im Nieselregen durch den morgendlichen Berufsverkehr nach Hause fährt, kehrt er in Gedanken immer wieder dorthin zurück. Immer wieder sieht er das glatte Gesicht aus seinem Alptraum und spürt den Druck auf seiner Brust. Und immer wieder geht ihm das Gespräch mit Melanie durch den Kopf.
    Nicht zum ersten Mal fragt er sich, was in Zelda Lorntons Autopsiebericht stehen wird. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass jeder Todesfall in der Klinik durch die Polizei und durch ein externes Untersuchungsteam überprüft wird. Angeblich hat es im Büro des Richters einigen Wirbel gegeben, als entschieden werden musste, wer die Autopsie übernehmen sollte. Zeldas Tod erschien dem Untersuchungsrichter nicht merkwürdig genug, um eine kostspielige, umfassende Obduktion durch einen staatlichen Rechtsmediziner zu beantragen, aber den gewöhnlichen Krankenhausärzten war die Sache zu heikel. Schließlich ging es darum, eine Patientin aufzuschneiden, die in einer psychiatrischen Klinik unerwartet verstorben ist. Die ganze Sache hat sich als heiße Kartoffel erwiesen, die im Leichenschauhaus Bristol wie ein Pingpongball hin und her geschmettert wurde, bis jemand ein Machtwort sprach und darauf bestand, dass einer der Rechtsmediziner sie als »spezielle« untersuchungsrichterliche Autopsie übernahm – anscheinend als eine Mischung aus einer

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