Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
Lücke zwischen den Regalen. Er fragt sich, ob sie gut schläft, wenn sie nachts hier ist. Ob sie seltsame Träume hat.
»Ich dachte, Sie könnten mir etwas sagen«, antwortet er schließlich. »Das war meine Hoffnung.«
Sie trommelt nachdenklich mit den Fingern auf den Tisch und betrachtet sein Gesicht. Es ist, als werde er von der Schuldirektorin inspiziert. »Okay. Okay.« Sie schiebt die Brille auf der Nase nach oben und notiert etwas auf dem großen Block auf ihrem Schreibtisch. »Überlassen Sie den klinischen Bereich mir … ich werde mit den Ärzten sprechen. Wir tun das Gleiche wie beim letzten Mal und nehmen uns jeden Einzelnen in der Individualtherapie vor. Keine Gruppensitzungen. Und einstweilen überlasse ich es Ihnen, sich um das Pflegepersonal zu kümmern. Okay?«
»Danke«, murmelt er. »Danke.«
»Gern geschehen.«
Seine Hand liegt auf dem Türknauf, und er will hinausgehen, als er Melanies Stimme hinter sich zu hören glaubt. Er dreht sich um. »Ja? Wie bitte?«
Sie mustert ihn, und in ihrem Gesichtsausdruck liegt etwas, das er noch nie gesehen hat. Er kann es nicht deuten. Es sieht aus, als wolle sie etwas sagen und wisse nicht, wie sie anfangen soll.
»Ja?«, wiederholt er.
»Finden Sie es unheimlich hier?« Ihr Blick flackert kurz und richtet sich auf den unteren Rand der Tür. Genauso schnell schaut sie wieder hoch und räuspert sich. »Ich will damit sagen, ich hoffe, Sie haben nicht das Bedürfnis, sich krankzumelden.«
»Selbstverständlich nicht.« Er zuckt kurz und wegwerfend mit den Schultern. »Ich meine, wovor soll man denn hier Angst haben?«
»Genau. Vor nichts.« Sie wendet sich wieder dem Computer zu und tippt ein paar Worte. »Halten Sie mich nur weiter auf dem Laufenden.«
Das Gitter
Als Caffery nach fünf Stunden Schlaf aufwacht, schnarcht Jacqui Kitson noch im Bett. Er rollt sich auf die Seite und betrachtet sie. Er kann die Lüge über das Verschwinden ihrer Tochter nicht in alle Ewigkeit erzählen. Nicht in alle Ewigkeit.
»Hey«, flüstert er quer durch das Zimmer. »Sie haben recht. Ich bin ein Scheißkerl.«
Sie reagiert nicht, sondern schnarcht weiter. Er setzt sich auf. Die Knochen tun ihm weh nach einer Nacht auf dem kleinen Sofa. Er bindet den Hotelbademantel zu, in dem er geschlafen hat. Sieht die Schlagzeilen bereits vor sich, die es gibt, wenn er unbekleidet aufsteht. SCHMUDDELAFFÄRE IM VERMISSTENFALL MISTY: LEITENDER ERMITTLER BEGRABSCHT MUM IN HOTEL .
Er geht zum Bett, beobachtet Jacqui und hört, wie sie atmet. Sie wird den Rausch überleben. Er tappt ins Bad, duscht, macht Kaffee, versucht, sich mit dem Hotelrasierer zu rasieren, schneidet sich und muss Jacquis Parfüm benutzen, um die Wunde zu desinfizieren. Sein Hemd ist halbwegs tragbar – ein bisschen zerknittert, und der Kragen ist feucht. Er schaut in den Spiegel. Offen gesagt, er sieht aus wie einer, der die Nacht auf dem Sofa verbracht hat. Er riecht auch so. Bevor er geht, bestellt er einen Weckruf für neun Uhr für den Fall, dass Jacqui verschläft, und dann schleicht er sich hinaus und schließt leise die Tür. Draußen auf der Straße ist es ruhig. Ein Bus taucht auf, ein rollender Lichtquader mit leeren Sitzreihen. Hinten sitzen zwei Frauen mittleren Alters; beide schlafen, und ihre Köpfe wackeln bei jeder Bewegung des Busses. Er wartet, bis der Bus vorbei ist, und geht dann quer über die Straße hinüber zum White Lion, in dessen Eingang sich Bierkästen stapeln. Der starke, süßlich durchdringende Geruch nach Alkohol, Honig und Säure erinnert ihn daran, dass er gestern Abend nichts getrunken hat. Zum ersten Mal seit Monaten. Das muss die Selbstgerechtigkeit sein, die sich da bemerkbar machte, als er Jacqui so sternhagelvoll gesehen hat. Er fühlt sich wie ein Heiliger mit seinem Mineralwasser.
Ein Gitter im Gehweg verschließt, was die meisten Leute nicht wissen, den Einstieg zu einem unterirdischen Fluss, der endlos weit unter den Straßen entlangfließt. Er stellt sich das rauschende Wasser unter seinen Füßen vor – und das, was darin schwimmt. Er weiß es, weil er es gesehen hat. Zerbrochene Plastikstühle, tote Katzen, Chipstüten, leere Dosen. Das alles bleibt ein paar hundert Meter weiter hängen, an den Stäben des Gitters, durch das der Fluss in den Hafen fließt und das den Dreck zurückhält wie die Barten eines großen Wals. Die Dinge, die verborgen sind. Die Dinge, über die wir hinweggehen. Dort unten. Vorbei. An jedem Tag unseres Lebens, ohne es je zu
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