Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
einen Hauch von Fjord in sich: Ihr Haar ist flüssige Seide, und ihre Haut ist so blass und ätherisch, dass die paar Sommersprossen, die auf ihrer Nase verstreut sind, auffallen wie eine Gesichtsbemalung. Wie immer trägt sie eine schlichte weiße Bluse und einen nüchternen Lehrerinnenrock, was ihrem Aussehen eine klinische Autorität verleiht. Unter den Kleidern verbirgt sich eine großartige Figur – da sind AJ und wahrscheinlich die meisten anderen männlichen Mitarbeiter ziemlich sicher –, aber selbst in einem unvorsichtigen Augenblick würde das niemand aussprechen, weil ihn sonst glatt der Blitz träfe: Genauso gut konnte man eine beiläufige Bemerkung über die Figur der Jungfrau Maria machen.
»Ja, AJ?« Als er, sprachlos wie immer, nichts sagt, schiebt sie die Brille noch weiter auf der Nase herunter und mustert ihn über den Rand hinweg. »Wollten Sie etwas?«
Sie ist nicht wütend oder arrogant oder ungeduldig, sie schreit nicht und erteilt keine kläffenden Befehle, wie es die Leiter anderer Psychiatriekliniken manchmal tun – im Gegenteil, ihr Ton ist sanft und zurückhaltend. Es ist eher die Knappheit, die sie so klar und professionell erscheinen lässt. Sie sagt so wenig wie nötig, gibt nur knapp die entscheidenden Informationen weiter, dann hört sie wieder auf. Auf jemanden, der so unpräzise und allgemein disziplinlos ist wie AJ, wirkt so etwas unglaublich einschüchternd.
»Es gibt ein Problem«, sagt er. »Wegen Zelda Lornton.«
Melanie nickt, aber das ist ihre einzige Reaktion.
Er schüttelt den Kopf und weiß nicht, wie er sich ausdrücken soll. »Es ist der Herzinfarkt. Die Leute sagen …« Er reibt sich verlegen den Nacken. »Die Leute sagen, es ist merkwürdig – kann nicht natürlich sein, dass ein so junger Mensch einfach stirbt.«
Melanie reagiert immer noch nicht. So ist sie immer; sorgfältig betrachtet sie alles, bevor sie etwas sagt, und dabei kümmert es sie nicht, wie lange sie ihr Gegenüber warten lässt.
Schließlich meint sie: »Wir haben noch keinen Obduktionsbefund. Von einem Herzinfarkt haben bisher nur die Rettungssanitäter gesprochen. Im Laufe der weiteren Untersuchungen werden wir beizeiten erfahren, wie merkwürdig oder natürlich die Todesursache war.«
»Aber ich nehme an, Sie wissen, was alle hier denken. Sie wissen, dass die Gerüchte wieder da sind?«
»Die Gerüchte?«
»Ja. Über die … na ja, die übernatürlichen Dinge, die den Patienten manchmal in den Sinn kommen.«
Ihr Gesicht bleibt absolut regungslos, doch jetzt legt sich ein winziger Hauch von Farbe auf ihre Wangen. Als »Maude« das letzte Mal im Krankenhaus erschienen ist, hat es sich als langwieriger, belastender und komplizierter Prozess erwiesen, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Melanie hat dabei das Ruder in der Hand gehabt. »Die Wahnvorstellungen, meinen Sie.«
»Ja. Sie sind wieder aufgekommen, und die ganze Sache zieht immer größere Kreise – bis hin zu den Mitarbeitern. Diese Woche hatten wir vierzig Prozent Fehlzeiten im Nachtdienst. Es ist so wie damals, als das mit Pauline Scott und Moses passiert ist.«
»Und, AJ, was schlagen Sie vor?«
»Was ich vorschlage?« Er spreizt hilflos die Hände. »Ja, das weiß ich nicht. Vielleicht sollte ich in den Dienstvorschriften nachsehen – im Abschnitt über ›Spukerscheinungen auf dem Korridor‹. Wahrscheinlich heißt es als Erstes: ›Derartige Vorkommnisse sind in den wöchentlichen Bericht an den Vorstand aufzunehmen.‹ Als Nächstes, nehme ich an, heißt es: ›Bedarfsanforderungen sind in dreifacher Ausfertigung an den für Kuratoriumsfragen zuständigen kommunalen Ethikrat zu richten, und zwar unter ausdrücklichem Verweis auf Unterparagraph 17.‹ Und dann …«
»Ich wollte keinen Sarkasmus hören.« Die Farbe ihrer Augen ist ein klares Himmelblau. »Ich habe Sie gefragt, was Sie vorschlagen, um die Ausbreitung einer Wahnvorstellung zu verhindern.«
AJ schweigt einen Moment lang. Sie ist so kurz angebunden. Ihre professionelle Maske ist wirklich furchterregend, und das Wort »Wahnvorstellung« aus ihrem Mund wurmt ihn aus Gründen, die er nicht genau definieren kann. Vielleicht weil es unfair gegen Monster Mother erscheint, ihre Angst so leichtfertig abzutun. Vielleicht auch, weil sein eigener Traum sich noch so real anfühlt. Kleine Hände, ein kleines Gesicht. Sein Blick wandert zum Fenster. Kahl und alt recken die Bäume ihre Astgabeln über dem gefrorenen Boden hinauf. Melanies Feldbett steht in einer
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