Die Puppe: Psychothriller (German Edition)

ob Keay ihn einigen anderen Patienten vorzog. Die Puppen sahen gespenstisch aus mit ihren einzelnen kleinen Zähnen und den lebensechten Augen in den gehäkelten Wollgesichtern. Andere hatten Gesichter aus Porzellan, das er im Brennofen des Therapiezentrums brannte, bevor er die Augen mit roten Konturen ummalte. Isaac mochte sich nicht von ihnen trennen. Er schleppte so viele wie möglich mit sich herum, und der Rest blieb in seinem Zimmer auf seinem Bett, die schlaffen Gliedmaßen verdreht und zusammengequetscht wie kleine Leichen.
    AJ findet keine Ruhe. Seinem Versprechen an Melanie zum Trotz kann er nicht aufhören, an Isaac Handel zu denken. An den unheimlichen kleinen Isaac. Er wartet, bis eine der Bürosekretärinnen aufsteht, um eine Toilettenpause zu machen, und ruft ihr nach: »Kann ich Ihren PC benutzen? Ich müsste mir einen Dienstplan ansehen.« Sie wedelt gleichgültig mit der Hand, und er lässt sich auf ihren Stuhl fallen.
    AJ hat nie gewusst – hat nie wissen wollen –, weshalb Isaac eigentlich nach Beechway gekommen ist. Als er hier ankam, war Isaac schon ein anderer Mensch: schweigsam, fügsam und Konfrontationen vermeidend. Seine Medikamente nahm er, ohne sich zu widersetzen. Tatsächlich kam AJ mit dem Jungen auf eine verrückte Art ganz gut zurecht. Das Einzige, was ihm nicht gefiel, war Isaacs Benehmen, wenn Melanie irgendwo erschien. Manchmal blieb er stehen und glotzte sie an wie ein Rüde eine läufige Hündin, wenn sie im Korridor an ihm vorbeiging – als hinterlasse sie eine Duftfährte aus Hormonen. Er stellte AJ ungehörige Fragen über sie: Wo wohnt sie? Wie alt ist sie? Ist sie verheiratet? AJ ist daran gewöhnt, dass männliche Patienten so auf Melanie reagieren: Sie ist ein Rätsel, das ihre mit Medikamenten marinierten Gehirne nicht entziffern können. Im Grunde war Isaac da auch nicht viel aufdringlicher als andere. Warum AJ den Mann trotzdem nicht mag, weiß er selber nicht.
    Die Sekretärin, an deren Arbeitsplatz er sitzt, ist als Verwaltungsmitarbeiterin dem Revisionsteam der Klinik zugeordnet, und ihre Aufgabe ist es, die Tonprotokolle der Verhandlungen zu transkribieren. AJ findet Isaac Handels Protokoll sofort auf dem Desktop und lädt es rasch auf einen lustigen Memory-Stick, den Patience als treue Kundin ihres Wettbüros bekommen hat: Er hat die Form eines Pferdekopfes. AJ ist alt genug, um sich dabei an den Kopf des toten Pferdes in dem Film Der Pate zu erinnern. Aber der Stick erfüllt seinen Zweck, und er steckt ihn ein.
    Hier in der Klinik kann er das Protokoll nicht lesen – er stellt sich vor, wie Melanie hereinkommt und ihn dabei ertappt. Wenn sie herausfindet, dass er nicht lockerlässt, war er zum letzten Mal in ihrem Haus in Stroud eingeladen. Das weiß er. Er schreibt ihr eine SMS: Muss ein bisschen früher gehen. Patience hat angerufen – Stewart macht Probleme. Sehen uns später xxx. PS: Du siehst schön aus ohne Schlaf. Muss an den guten Genen liegen .
    Er fährt zum nächsten Starbucks und bestellt gleich das Erstbeste, was auf der Getränkeliste steht. Das Zeug schmeckt eher wie ein aufgewärmter Kaffee-Milkshake als wie ordentlicher Kaffee. Er setzt sich mit dem Rücken zu den anderen Gästen in eine Ecke, klappt seinen Laptop auf und lädt das Sitzungsprotokoll:
    Isaac Peter Handel vs. Revisionsausschuss Psychiatrie
    Mittwoch, 10. Oktober
    Psychiatrische Klinik Beechway
    Vorsitz: Mr Gerard Unsworth, Kronanwalt
    AJ ist bei dieser Verhandlung gewesen. Im Laufe der Jahre hat er davon schon Hunderte erlebt, und diese hat nichts weiter Bemerkenswertes an sich gehabt. Hilfskräfte hatten den Besprechungsraum im Verwaltungstrakt geputzt und vorbereitet und eine Ladung Sandwiches und Thermoskannen mit Tee und Kaffee hingestellt. AJ war nur kurz dabei, um dem Ausschuss den Pflegebericht zu präsentieren. Lauter Routinekram: Er hat erzählt, wie Isaac auf die Medikamente reagiert hatte, die Entwicklung seiner Verhaltensmarker vorgetragen und von seinem Engagement in der Therapie und seinen Beziehungen zu anderen Patienten berichtet.
    Die meisten Revisionsverhandlungen, bei denen eine Entlassung empfohlen wird, sind für gewöhnlich reine Formsache. Meistens ist die informelle Entscheidung bereits sechs Monate vorher gefallen. Isaac und seine Anwältin waren deshalb schon präpariert: Wenn er seitdem nicht über die Stränge geschlagen hatte, würde er zur Entlassung empfohlen werden. Es gab noch ein paar Reifen, durch die gesprungen werden musste, das übliche