Die Puppenkönigin – Das Geheimnis eines Sommers (German Edition)
Postamt und an dem großen alten Friedhof auf dem Hügel. Zach hatte diesen Weg schon sehr oft zurückgelegt – an der Hand seiner Mutter, als er klein war, später mit den Händen am Lenker, als er mit dem Fahrrad zur Schule gefahren war, und jetzt zu Fuß. In dieser Stadt war er aufgewachsen und obwohl sie klein war und die meisten Läden hatten schließen müssen, ja sogar trotz der vernagelten Fenster und der leer stehenden Wohnungen, fühlte Zach sich hier zuhause.
Er konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben – was ihm echt im Weg stand, wenn er sich vorstellen wollte wegzulaufen.
»Aber da ist was dran«, fuhr Leo fort. »Wir sind früher oft umgezogen und haben irgendwann in einer richtigen Spukwohnung gewohnt. Ich schwöre – wenn der Geist im Zimmer war, wurde es total kalt, sogar im Hochsommer. Und eine Stelle war immer eiskalt. Da konntest du einen Heizofen draufstellen, trotzdem wurde sie nicht wärmer. Dort ist nämlich mal jemand gestorben – das hat sogar die Vermieterin gesagt.«
»Hast du den Geist denn gesehen?«, fragte Alice.
Leo schüttelte den Kopf. »Nein, aber manchmal hat er Dinge versteckt. Zum Beispiel die Schlüssel meiner Mutter. Mom hat den Geist angeschrien, er solle sie zurückgeben, und neun von zehn Mal hat sie den Schlüssel dann direkt gefunden. Mom sagt, man muss eben wissen, wie man mit Geistern umspringt, sonst tanzen sie einem auf der Nase herum.«
Poppy lächelte, wie sie es tat, wenn sie sich auf etwas Spannendes freute – eine neue Wendung der Geschichte, eine schockierende Enthüllung oder den großen Coup eines Bösewichts. Ihre Wangen waren rosig vom Wind und ihre Augen strahlten. »Wisst ihr was? Wenn man an einem Friedhof vorbeifährt, muss man die Luft anhalten. Sonst können die Geister der frisch Verstorbenen durch deinen Mund in den Körper gelangen – und dann bist du besessen .«
Jetzt lief Zach wirklich ein Schauer über den Rücken und seine Nackenhaare sträubten sich. Unwillkürlich stellte er sich den Geschmack vor – wie ein Mund voll beißenden Rauchs. Er spuckte aus, um den Geschmack wieder loszuwerden.
»Bah«, sagte Alice in die Stille, die nach Poppys Vortrag entstanden war. »Wegen dir habe ich die Luft angehalten! Ich habe die ganze Zeit versucht, nicht einzuatmen. Aber egal, wir waren ja schon am Friedhof vorbei – hättest du uns die Geschichte nicht vorher erzählen können? Oder wolltest du etwa, dass wir besessen werden?«
Zach musste wieder an den letzten Abend denken, an das Gefühl, etwas wäre hinter ihm her und hätte ihm in den Nacken geatmet. Etwas, das gleich die Hand ausstrecken und ihn mit kalten Fingern packen würde. So war es auch mit der Geschichte, sie hielt ihn fest im Griff und würde dafür sorgen, dass er in Zukunft jedes Mal an sie denken musste, wenn er in der Nähe eines Friedhofs war.
Poppy lächelte weiter. Dann riss sie die Augen richtig weit auf und sprach nun in einem ausdruckslosen flachen Tonfall: »Vielleicht bin ich gar nicht mehr Poppy. Vielleicht wusste ich nicht, dass ich den Atem hätte anhalten müssen, und habe es auf die harte Tour gelernt. Vielleicht bin ich von einem Geist besessen, der euch jetzt warnt, obwohl es schon zu spät ist. Die Geister sind schon in E E eeuu U U ch … «
»Jetzt hör aber auf«, sagte Alice und schubste Poppy ein bisschen, bis sie beide anfingen zu lachen.
Leo stimmte nervös ein. »Darum macht die Geschichte einem Angst. Weil man das eine, das einen retten könnte, nicht hinbekommt. So weiß man nie, ob man lange genug die Luft angehalten oder doch zu früh ausgeatmet hat.«
»Das Lächeln war echt unheimlich«, sagte Zach. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein unheimliches Lächeln hast, Poppy?«
Sie sah aus, als wäre sie sehr zufrieden mit sich.
Die Kinder gingen noch ein paar Straßen weiter, bis Leo schließlich abbiegen musste. Er winkte zum Abschied und nahm eine Abkürzung über den breiten Rasen einer Wohnwagensiedlung.
Dann waren nur noch Alice, Poppy und Zach übrig, die das kurze Stück zu der Neubausiedlung mit den geduckten Häusern, die von außen fast gleich aussahen, gemeinsam zurücklegten. Zachs Herz schlug schneller und seine Beine waren plötzlich wie aus Blei, weil er keine Möglichkeit sah, dem Gespräch auszuweichen, das auf ihn zukam. Dabei gab es nichts, das er sich sehnlicher wünschte.
Viertes Kapitel
Die Luft war kühl, die Bäume leuchteten in gelbem und rotem Blätterglanz und ein dicker brauner Teppich aus
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