Die Pyramide: Im Zeichen des Orion (German Edition)
Toiletten mit ihrem Holz- und Herzchenlook hatten einen ungeheuren Erlebniswert, eine überregionale Tageszeitung sprach von „Erlebnispinkeln“, und stellten den Prunk des Hotels in den Schatten. Rechts vom Vorraum war ein kleiner Ruhe-Erker. Eine steinerne Bank mit Moospatina, darauf eine Polsterauflage, ein passender Tisch und ein paar Sitzblöcke mit vielen Kissen zum Abpolstern des Allerwertesten, einige Grünpflanzen und eine Klima-Anlage, die angenehme Temperaturen garantierte, ließen die Illusion entstehen, man befinde sich in einem verwunschenen Garten.
Marianne war nicht im Vorraum. Ich öffnete die Tür zum Toilettenraum.
„Frau Fischer“, rief ich.
Keine Antwort. Dann hörte ich, wie sich hinter einer der Türen sich jemand übergab. „Marianne“, rief ich, „kann ich Ihnen helfen?“
Keine Antwort. Ich wartete. Dann öffnete sich endlich die Tür und sie kam heraus, bleich und verschwitzt.
„Kommen Sie, legen Sie sich einen Moment hin.“
Ich stützte sie und führte sie zu der Bank, nahm einige Kissen, schob ihr eines unter den Kopf und zwei unter die Beine. Dann machte ich einige Handtücher feucht, legte ihr eines auf die Stirn und rieb ihr mit dem anderen Gesicht, Hals und Arme ab. Ihr Puls war flach und schnell. „Ich soll Ihnen von Ihrem Arzt diese Tablette geben“.
Ich öffnete das Pillendöschen und reichte ihr das Glas mit dem Wasser.
„Solange Sie sich übergeben müssen, ist das Medikament allerdings sinnlos. Trinken Sie vielleicht erst einmal einen Schluck“.
Sie richtete sich etwas auf und tat einen tiefen Zug aus dem Glas. Dann legte sie sich zurück und schloss die Augen. Die Tür des Toilettenraumes öffnete sich und eine dralle Blondine betrat den Vorraum. Sie blickte neugierig zu uns herüber.
„Es ist da drin aber auch stickig“, sagte sie und kam plappernd auf uns zu.
„Ja, das ist richtig. Nehmen se mal nen ordentlichen Schluck Wasser. Na, und die Pille bringt Sie bestimmt wieder auf die Beine“, bemerkte sie noch mit einem Blick auf das Döschen. Wieso kam mir die Frau nur so bekannt vor? Jesses, das musste Jochens Lieblingskundin sein. Frau de Keijzer zum Hove, wie sie sich nannte. Niemand wusste, ob dieser Name erfunden war oder ob er wirklich in ihrem Pass stand.
„Und wie soll ich Sie anreden“, hatte der junge Jochen einst naiv gefragt, als sie sich ihm vorgestellt hatte.
„Nenne mich einfach `Genossin Olga`“, hatte sie geantwortet.
Genossin Olga war in jungen Jahren in die SPD eingetreten und vertrat radikal linke Ansichten. Damals war sie noch brünett, mager und kategorisch für Umverteilung gewesen. Dann hatte sie ihren Mann kennen gelernt, der Gewerkschaftsmitglied und auf dem Weg nach oben war. Sie hatte sein Potential gleich erkannt und ihn gekapert. Parallel zum Aufstieg ihres Mannes in Führungspositionen und Aufsichtsratsgremien hatte sie Gewicht zugenommen, war blond und kategorisch gegen Umverteilung geworden. Aber sie ließ sich weiterhin Genossin Olga nennen. Sie war ein ausgemachter Humorbolzen. Die Ellenbogen und die Durch-setzungskraft ihres Mannes waren berüchtigt, aber noch gefürchteter war ihr Schandmaul. „Vielleicht sollten wir sie einfach in Ruhe lassen“, sagte ich so sanft und freundlich wie ich konnte.
Marianne fröstelte.
„Geben Sie mir Ihre Garderobenmarke. Ich hole Ihren Mantel zum Zudecken.“
Sie kramte in ihrem Handtäschchen nach der Marke, gab sie mir, und ich verließ den Raum. Die Garderobenfrau gab mir einen wadenlangen schwarzen Nerzmantel. Als ich die Tür zu den Toilettenräumen wieder öffnen wollte, hörte ich einen furchtbaren Schrei, nein, eigentlich mehr ein durchdringendes Quieken. Im Waschraum stand Genossin Olga, zeigte mit weit aufgerissenen Augen in Richtung Ruheerker und hörte mit dem Gequieke nicht auf. Ich lief zur Bank hinüber. Marianne lag da, zusammengekrümmt mit verdrehten starren Augen und geöffnetem Mund aus dem Schaum lief. Ich sah sofort, dass sie tot war. Bewegungsunfähig stand ich da und wusste nicht, was ich denken sollte, während Olga quiekte. Einen Moment lang sah ich das Bild eines fetten Schweines vor meinen Augen, das geschlachtet werden soll und in Panik quiekt, und ich wünschte mir, jemand käme mit einem großen Schlachtermesser und brächte Olga zum Schweigen. Es war mir, als hätte uns ein Regisseur in einem surrealistischen Theaterstück auf eine Bühne gestellt. Die verkrampfte Leiche der Hotelbesitzerin auf einer bemoosten Bank, davor
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