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Die Qualen der Sophora

Die Qualen der Sophora

Titel: Die Qualen der Sophora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: May R. Tanner
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ihr auf die Schnelle keine bessere Ausrede
einfiel.
    „Du kannst sonst besser lügen, Catalina!“, gab er mit
einem amüsierten Unterton zurück, um dann ihr Kinn mit Daumen und Zeigefinger
nach oben zu tippen, so dass sie ihm ins Gesicht sehen musste. Die linke
Gesichtshälfte war von Pflastern und Verbandsmaterial verdeckt, sein linker
Mundwinkel war leicht nach oben gezogen. Seine Wangen waren eingefallen und er
hatte tiefe Schatten unter den Augen. Sie brachte kein Wort über die Lippen. Er
sah weit weniger schlimm aus, als sie es sich vorgestellt hatte. Was sich unter
dem Verband verbarg, wagte sie nicht zu fragen.
    „Hey! Nicht weinen, Catalina! Ich bin selbst schuld
gewesen. Ich habe dich angelogen, weil ich unbedingt auf einen Einsatz wollte.
Ich hab in der Klinik nur daran denken können, dass ich dich in Schwierigkeiten
gebracht habe, das wollte ich nicht. Ich hab es Vater erklärt, dass ich allein
dafür verantwortlich gewesen bin. Ich hoffe, er hat dich in der Zwischenzeit
nicht dafür bestraft, was ich ausgeheckt habe? Es tut mir wirklich leid.“
    Catalina schnürte es die Kehle zu. Sie versank beinahe
in dem liebevoll und gleichzeitig reumütigen Blick, der allein ihr galt.
„Denk nicht mehr daran! Ich bin nur froh, dass es dir gut geht. Ich habe dich
vermisst“, wisperte sie mit zitternder Stimme, weil sie gerne viel mehr gesagt
hätte. Aber er hörte „Ich hab dich so lieb“ nicht mehr so gerne, seitdem er
zehn geworden war.
    Sein erfreutes Grinsen trieb ihr noch mehr Tränen in
die Augen, weil es etwas schief geriet und er dann die Luft scharf einsog. Er
hatte bestimmt Schmerzen. Sie würde ihn niemals wissen lassen, dass sie eine
drakonische Strafe für ihr Fehlverhalten hatte erdulden müssen. Er war doch ihr
kleiner Bruder und für ihn würde sie noch weit mehr ertragen. Selbst wenn sie
ihn nun nicht mehr für sich haben würde, wusste sie, dass er sie nicht hasste.
Sie streckte die Hand aus und Dragomir umfasste sie mit beiden Händen, so dass
ihre kleine und doch zerschundene Hand darin verschwand. Sie hatte immer
gedacht, dass er viel zu sensible Hände hatte, um damit Waffen zu führen. Er
sollte ein Instrument spielen und nicht ein Schwert führen.
    ° ° °
    Sein Gesicht verschwamm hinter einem Tränenschleier.
Die Gegenwart holte die Vergangenheit ein und Cat kam wieder in der Realität
an, wo die Kälte ihrer Glieder daher kam, dass sie auf dem steinernen Balkon
kauerte. Sie hatte wirklich gedacht, dass sie mit der Umwandlung auch ihr altes
Leben zurückgelassen hätte, doch sie war davon auch nicht durch das Wissen
befreit, dass sie nun ihren wahren Vater kannte.
Mit tränenüberströmten Gesicht sah sie zu Nathan auf, ohne ihn wirklich zu
sehen, weil alle Formen vor ihren Augen verschwammen. Mit dem Stoff des
überlangen Ärmels wischte sie ihre Wangen trocken und versuchte, nicht auch
noch in Schluchzen auszubrechen.
    "Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du die
Geduld eines Heiligen hast?", versuchte Cat eine halbherzig witzige
Bemerkung, ohne zu lächeln.
    Nathan hatte sie natürlich sofort durchschaut und
nicht auf ihre Provokationen reagiert. Er hatte mit diesem Verhalten
schließlich viel länger Erfahrungen als sie.
    "Ich sollte nicht weinen, oder? Das ist krank...
Aber es ist eben das einzige Zuhause, das ich kenne. Ohne diese Erinnerungen
wäre ich weniger als ein Phantom."
Cat könnte es ihm nicht verübeln, wenn er für ihre Tränen und ihre Traurigkeit
kein Verständnis hätte. Das würde niemand verstehen, dass man sogar diese Hölle
vermissen konnte. Manchmal verstand sie es selbst nicht.
     
    „Nicht doch!“ , wehrte Nathan das Kompliment über
seinen Charakter ab, der garantiert nicht dem eines Heiligen entsprach, auch
wenn ihm gewisse Züge eines solchen anhafteten. Er ließ sich neben sie auf den
Boden nieder und zog die schniefende Cat in seine Arme.
„Du kannst so viel weinen, wie du möchtest. Tränen sind etwas Gutes. Sie lassen
dich menschlich bleiben. Sobald du nicht mehr weinen kannst, wirst du merken,
dass dir etwas fehlt. Allerdings bist du dann innerlich soweit erkaltet, dass
du nicht wissen wirst, was es ist. Gefühle sind wichtig, Catalina. Scheu dich
nie, sie mir oder irgendjemand anderem zu zeigen.“
    Er drückte sie ganz fest an sich und küsste den Ansatz
ihrer Stirn. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Das, was Dragomir
und Nicolasa widerfahren war, war nicht ihr Fehler. Nathan hatte die Gedanken
und aufsteigenden Bilder in ihr

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