Die Quelle
hatte Angst, sie aufzugeben.«
»Ich habe gewartet«, sprach El-Schaddai, »weil Ich wußte, daß du, hättest du deine Wüstenheimat nicht geliebt, auch
Mich nicht geliebt hättest. Ich freue Mich, daß du jetzt bereit bist.«
»El-Schaddai!« rief der Patriarch schmerzlich und gab die wahre Furcht preis, die ihn in der Wüste festgehalten hatte. »Werden wir Dich in der Stadt so kennen, wie wir Dich in der Wüste gekannt haben?«
»Innerhalb der Mauern wird es nicht leicht für Mich sein, mit euch zu sprechen«, antwortete der Gott. »Aber Ich werde dort sein.«
Mit diesem ewigen Versprechen an die Hebräer schied El-Schaddai, und beim Tagesanbruch befahl Zadok, das kleine rote Zelt abzubrechen. In jenen Jahrhunderten besaß jede Sippe der Wüstenhebräer ein heiliges Zelt aus drei Lagen von Fellen. Über ein kleines hölzernes Gerüst, in das keine zwei Männer kriechen konnten, wurden Ziegenfelle gespannt, darüber Widderhäute gelegt, die mit teurer, aus Damaskus stammender Farbe rotgefärbt waren, und um das ganze Streifen aus weichem Dachspelz gewunden. Dadurch war das Zelt deutlich als etwas Besonderes gekennzeichnet. So oft Zadok seiner Sippe zu rasten befahl, wurde als erstes das kleine rote Zelt aufgeschlagen und damit kundgetan, daß hier ihre Heimstatt war. Und wenn die Hebräer eine Gegend endgültig verließen, wurde das rote Zelt als letztes abgerissen, während die Ältesten im Gebet verharrten.
»Nach Deiner Weisung haben wir in der Wüste gewohnt«, betete Zadok, »und wenn wir nun grüne Felder besetzen werden, so geschieht es nach Deinem Willen.«
Während das Zelt abgebrochen wurde, durften nur wenige sorgfältig Auserwählte sehen, was es enthielt: ein Stück Holz von sonderbarer Form, mit dem Zebul einen Feigling getötet hatte, weil der die Hebräer bereden wollte, eher in der Wüste zu sterben als die drei Tage bis zur Oase östlich von Damaskus zu wandern; eine Perlenkette, deren Geschichte niemand kannte; das Horn eines Widders, der vor fast tausend Jahren an einem denkwürdigen Neujahrstag als Opfertier gedient hatte; ein Stück Tuch aus Persien - das war alles. Weder El-Schaddai noch irgend etwas, das ihn darstellte, befand sich im Zelt. Er lebte anderswo, auf dem Berg, den es nicht gab.
»Unser Gott ist nicht innerhalb der ledernen Wände«, erinnerte Zadok seine Hebräer. »Er wohnt nicht in diesem Zelt. Er ist kein Gefangener unserer Zelte, doch wir sind Gefangene Seines göttlichen Zeltes.« Als das rote Zelt vor dem Aufbruch nach Westen auf einen Esel verladen wurde, legte der alte Mann noch einen fünften Gegenstand hinzu, der hinfort die Sippe Zadoks überallhin begleiten sollte zur Erinnerung an die Wohltaten El-Schaddais in der Wüste: Vom dürren Boden nahm Zadok einen ganz gewöhnlichen Stein auf, nichts als ein Stück Geröll aus der Wüste, die sie nie mehr sehen, deren sie sich aber entsinnen sollten, sooft sie Zadoks Stein erblickten.
Den siebenhundert Hebräern voran schritt der kleine Esel, der das rote Zelt trug. Dem Tier folgte der alte Zadok in Sandalen, grob wollener, über der Hüfte gebundener Kniehose und einem über die Schultern geworfenen leichten Wollumhang. In seiner Linken hielt er einen langen Stab, um auf dem steinigen Pfad sicherer zu gehen. Mitunter wehte sein Bart über die linke Schulter, und seine alterstrüben Augen blinzelten, wenn er den Weg zu erkennen versuchte. Aber dabei unterstützten ihn seine Söhne. Die junge Sklavin ging ihm zur Seite, einen Wasserbeutel in der Hand, und dann kamen seine Weiber, seine achtzehn Söhne, seine zwölf Töchter, ihre Männer und Weiber, Vettern, Enkel, Oheime und alle, die sich der wachsenden Gemeinschaft angeschlossen hatten. Die Ziegen und Schafe, die wenigen Rinder und die Hunde trotteten nebenher, die eigentliche Arbeit aber taten die Esel, denn sie trugen auf ihren Rücken die Zelte, die Vorräte und die kleinen Kinder. Auf dem ersten Hügel, der erstiegen wurde, blieben viele Hebräer stehen und schauten sehnsüchtig zurück auf die große Wüste, die so viele ihrer Geschlechter in Sicherheit erhalten hatte; Zadok jedoch wandte sich nicht um. Er hatte in seinem Herzen Abschied genommen, und der Schmerz dieses Tages sollte fortwirken bis an sein Ende.
Epher der Rothaarige, der schon oft gegen ummauerte Städte Krieg geführt hatte, traf die Entscheidungen auf dem Zug nach Westen. Am neunzehnten Tag führte er seine Sippe und die Herden zum Kamm eines Hügels - in der Erinnerung späterer Jahre
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