Die Quelle
Ausgrabungen. Jedesmal das gleiche, dachte er. Man nimmt in Angriff, was nach einfacher Ausgrabung aussieht. In der Erde verborgene Fragmente der Historie. Und noch ehe der erste Korb voll ist, entdeckt man, daß die Wühlarbeit sich im eigenen Verständnis der jeweiligen Kultur vollzieht. Er lehnte sich zurück und dachte an seine Zeit in Arizona. Begonnen hatte er die Grabung mit einem Wissen über die Indianer, das dem der meisten Fachleute entsprach. Das Ende aber waren zwei Jahre konzentrierter Forschung über die Psyche der Indianer gewesen, wobei er alles über das Thema Erschienene gelesen und sich weit in das Gebiet paralleler Erscheinungen bei den Ainu in Japan oder den Eskimos von Alaska gewagt hatte. Nun brachte er seine Tage damit zu, physisch in den Schutt Makors einzudringen, und seine Nächte damit, sich in den Geist des Judentums zu versenken, das am Entstehen des Tell so großen Anteil gehabt hatte. Als er sich vergewissert hatte, daß die letzten Touristen verschwunden waren, schloß er seine Tür wieder auf und schlenderte zu Eliavs Zimmer. »Haben Sie irgendwelche neueren Veröffentlichungen über die Juden für mich zu lesen?«
»Sie überfallen mich unvorbereitet«, antwortete Eliav.
»Der Unsinn, den ich heute hören mußte! Ich habe genug. Hätte gern was Solides zu beißen.«
»De Vaux, Kaufmann, Albright kennen Sie?« Cullinane nickte. »Maimonides?«
»Er ist der Beste.«
»Es gibt Besseres.«
»Was?«
»Lesen Sie fünfmal das Deuteronomium.«
»Fünfmal das Fünfte Buch Mose? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
»Nein. Das Deuteronomium. Fünfmal.«
»Was soll das?«
»Es ist das große zentrale Buch der Juden. Wenn Sie es bewältigen, werden Sie uns verstehen.«
»Ist es wirklich wert, fünfmal gelesen zu werden?«
»Ja, denn die meisten Nichtjuden halten die alten Hebräer für merkwürdige Relikte, die vor zehntausend Jahren auf archaisch-mysteriöse Weise nach Israel gekommen sind.«
»Wie ist es nach Ihrem Dafürhalten vor sich gegangen?« fragte Cullinane. »Mir erscheint das Deuteronomium so wirklich, daß ich das Gefühl habe, als seien meine nächsten Vorfahren - sagen wir mein Urgroßvater, den Wüstenstaub noch auf den Kleidern - mit Ziegen und Eseln das Tal herabgezogen, hierher.«
»Und die Lektüre des Deuteronomiums wird ein ähnliches Gefühl in mir auslösen?«
»Lesen Sie es fünfmal. Dann wird sich’s zeigen«, versetzte Eliav. So kam es, daß Cullinane seine Bekanntschaft mit dem alten jüdischen Meisterwerk - das er in Princeton zum erstenmal ernstlich studiert hatte - erneuerte. Das Buch Deuteronomium hat den Sinn einer Abschiedsrede des Mose an seine Juden, die im Begriff stehen, die Wildnis zu verlassen und das Land Kanaan zu betreten. Beim Lesen der ersten Zeile: »Dies sind die Worte, die Mose redete zum ganzen Israel jenseits des Jordans.«, hatte Cullinane das Gefühl, das Deuteronomium gleiche Washingtons Abschiedsrede an seine Befreiungsarmee. Die Ähnlichkeit war treffend.
In Makor gab es keine Douay-Bibel; Cullinane konnte diese katholische Übersetzung daher nicht benutzen, was ihn jedoch nicht weiter bekümmerte. In Princeton hatte er die protestantische King-James-Bibel gut kennengelernt. Als er ihre Spalten jetzt überflog, stieß er auf Sätze und Sprüche, von denen er einst angenommen hatte, sie stammten aus dem Neuen Testament: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein« und »Du sollst den HErrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allem Vermögen«. Und er entdeckte Gedanken, die zum Kern seines neutestamentlichen Katholizismus gehörten: »Denn es ist das Wort gar nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, daß du es tust.«
Als Cullinane mit der ersten Lesung fertig war, wollte er Eliav sagen, er fühle sich nun wieder frisch und in der Verfassung, eine neue Busladung Touristen zu ertragen. Er hatte jedoch bemerkt, daß der hochgewachsene Jude in solchen Dingen eigen war, und begann, um ihm seinen Wunsch zu erfüllen, das Deuteronomium noch einmal von vorn an zu lesen. Diesmal bekam er einen Begriff von der gewaltigen Historizität des Buches: Der unbekannte Autor - der sich des literarischen Kunstgriffs bedient hatte, ab Mose zu sprechen -war ein in die jüdische Geschichte vertiefter Schriftgelehrter gewesen und sprach von ihr, als habe sie sich gestern zugetragen - wie Eliav gesagt hatte: zur Zeit seines Urgroßvaters. Das gleiche Gefühl erlebte nun auch Cullinane. Er las die Zehn
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