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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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verkündige! Lernt sie und befolgt sie getreu!«
    Er verglich die moderne Übersetzung mit dem hebräischen Original und stellte dabei fest, daß die jüdische Übersetzung wörtlich war, die King-James-Ausgabe hingegen nicht. Er wiederholte den Versuch mit einem halben Dutzend anderer Stellen und fand immer wieder, daß die jüdischen Übersetzer sich um textgetreue, wenn auch nicht poetische Wiedergabe bemüht hatten.
    Unmerklich fast ließ er jedoch das kritische Vergleichen - zu seiner eigenen Überraschung merkte er, daß er aus reinem Vergnügen an der den Geist der alten Zeit wiedergebenden Formulierung weiterlas. Beim zweiten Durchlesen kam er zu der Stelle, die auf jeden jüdischen Leser gewaltigen Eindruck macht: »Nicht mit unseren Vätern hat der HErr diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, den Lebenden, mit jedem von uns, der heute hier ist.« Und er verstand, was Eliav ihm gesagt hatte: Dieses Deuteronomium war ein lebendiges Buch, es besaß für den Juden von heute die Kraft der Aktualität. Als er zu der Stelle gelangte, die erzählt, wie die Juden, nachdem sie die Zehn Gebote erhalten haben, Mose drängen, nochmals zu Gott zu gehen und weitere Weisungen zu holen, gab ihm die simple Ausdrucksweise der neuen Übersetzung das Gefühl, tatsächlich zur Zeit, da die Gebote verkündet wurden, mit den Juden am Horeb zu stehen: »Geh du näher hin und höre alles, was der HErr unser Gott sagt. Dann sagst du uns alles, was der HErr unser Gott dir sagt, und wir wollen es gern befolgen.«
    Als er mit der vierten Lesung fertig war, gestand Cullinane Eliav: »Ich verstehe jetzt, was Sie meinen. Es hat Aktualität. Man glaubt die Juden fast körperlich zu spüren.«
    »Nun noch zum letztenmal. Auf hebräisch diesmal. Genau wie es einst niedergeschrieben worden ist.«
    »Mein Hebräisch ist zu sehr eingerostet«, versetzte Cullinane. »Ich verlasse mich auf Sie: Die neue Übersetzung ist getreu.«
    »Ich möchte Ihnen etwas ganz anderes beweisen«, sagte Eliav. »Und dazu reicht Ihr Hebräisch. Überlesen Sie die Wörter, die Sie nicht kennen.« Cullinane brauchte nahezu einen Tag, sich durch den hebräischen Text hindurchzuarbeiten, und erlebte dabei einen seiner schönsten Tage in Makor. Denn als er sich seinen Weg durch dieses gewaltige Hebräisch bahnte, ähnlich fast wie er sich durch die Schichten von Makor graben mußte, gelangte er zu dem stillen und doch so klangvollen Bekenntnis, das der Kern des Judentums ist - an jene Stelle, in der die Essenz der jüdischen Geschichte konzentriert ist: »Ein umherirrender Aramäer war mein Stammvater. Er zog nach Ägypten hinab mit geringer Anzahl und lebte dort als Fremdling; dort aber wurde er zu einem großen und sehr zahlreichen Volk. Die Ägypter mißhandelten uns und bedrückten uns und legten uns harten Frondienst auf. Wir schrien zum HErrn, dem Gott unserer Väter. Und der HErr hörte unser Flehen und sah unsere Not, unsere Mühsal und Bedrängnis. Der HErr hat uns mit starker Hand, mit gestrecktem Arm und furchtbarer Macht, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten geführt. Er brachte uns an diesen Ort und gab uns dies Land, ein Land, das von Milch und Honig fließt.« Beim Abendessen sagte Eliav: »Ich möchte Ihnen noch folgendes sagen. Das Hebräisch, in dem um das siebte vorchristliche Jahrhundert das Deuteronomium niedergeschrieben wurde, ist das gleiche Hebräisch, das wir in Israel zu neuem Leben erweckt haben, nachdem es tausend
    Jahre lang eine tote Sprache gewesen war. Rufen Sie nur einen von den Kibbuzniks. He, mein Sohn!« Ein Junge von fünfzehn schlenderte heran, ein wenig nachlässig, mit zufriedenem Gesicht, die Ärmel aufgekrempelt, denn er hatte den Speisesaal zu putzen. »Kannst du mir jemand suchen, der Englisch spricht?« fragte Eliav. Der Junge meinte, er könne selbst Englisch. Eliav reichte ihm die hebräische Thora, zeigte auf eine Stelle im Deuteronomium und fragte: »Kannst du das lesen?«
    »Klar.«
    »Dann lies mal.« Der Junge besah sich die Worte - einige der ältesten in hebräischer Schrift festgehaltenen - und sagte zögernd: »Mein Vater war ein Aramäer ohne Heimat. Er ging nach Ägypten. Nicht viele. Dort wurde er ein Volk.«
    »Gut«, sagte Eliav. Vergnügt ging der Kibbuznik wieder an seine Arbeit. Cullinane war verblüfft. »Heißt das. daß jeder Israeli, der in die Schule gegangen ist, heute die Bibel im Urtext lesen kann?«
    »Selbstverständlich. Für uns ist sie ein lebendes Buch. Nicht notwendigerweise ein

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