Die Quelle
Gebote, als sei er selbst einer aus den Zwölf Stämmen und höre Mose zu. Er selbst entkam aus Ägypten, war am Sinai dem Verdursten nahe, widersetzte sich voller Angst dem ersten Einfall ins Gelobte Land. Cullinane legte die Bibel mit dem ganz deutlichen Empfinden nieder, die Geschichte eines wirklichen Volkes gelesen zu haben. nicht seine wirkliche Geschichte vielleicht, aber ein Konzentrat aus Hunderten alter Überlieferungen und Erinnerungen des Volkes. Eliav hatte ganz richtig vorausgesehen: Cullinane konnte sich nun schon vorstellen, wie eines Tages eine Schar
Hebräer durch die Täler herabstieg und Makor fand. Und Cullinane fragte sich bereits, welche Entdeckungen ihm im Verlauf der drei weiteren Lesungen noch bevorstanden.
Doch da erschien Eliav, ein Buch unterm Arm, und nahm die King-James-Bibel an sich. »John, ich möchte, daß Sie zu Ihren beiden nächsten Lektüren diese neue englische Übersetzung benutzen. Sie ist das Werk einiger jüdischer Gelehrter aus Philadelphia.«
»Warum eine jüdische Übersetzung?«
Eliav zögerte, sagte dann aber: »Eine etwas heikle Sache. Aber das Deuteronomium ist seinem Wesen nach spezifisch jüdisch. Es ist unser heiliges Buch und bedeutet uns doppelt so viel, als es wohl einem Katholiken oder Baptisten bedeuten kann. Trotzdem liest jeder es in protestantischer oder katholischer Übersetzung.«
»Für mich ist eine so gut wie die andere«, widersprach Cullinane.
»Keineswegs«, erwiderte Eliav. »Schon als die King-JamesBibel entstand, hat man etwas absichtlich Altertümliches daraus gemacht. Damit etwas Schönes, Dichterisches entstehe. Heute ist sie schlechthin veraltet, und wenn junge Leute sie lesen, um die Grundlagen ihres Glaubens kennenzulernen, kann die Folge nur sein, daß sie die Religion selbst für veraltet halten - für verstaubt und nicht mehr zeitgemäß.«
»Vielleicht. Doch warum eine jüdische Übersetzung?«
»Der andere Fehler der King-James-Ausgabe ist ihre rein protestantische Wortwahl. Ihr Katholiken habt dies bald erkannt und benutzt deshalb eure Douay-Ausgabe, die allerdings genauso einseitig ist, nur auf katholische Art. Dabei ist und bleibt das Buch, mit dem ihr euch auseinandersetzt, ein jüdisches Buch, von Juden für Juden zur Unterweisung in einer sehr jüdischen Religion geschrieben. Es ist deshalb wohl verzeihlich, wenn wir meinen, wir sollten eine Übersetzung haben, die diese Tatsachen berücksichtigt. besonders beim Deuteronomium.«
»Deshalb haben Sie nun alles in einseitig jüdische Sicht gebracht.«
»Nein, das ist nicht das Entscheidende. Wissen Sie, was bei Jesaja 7, 14 steht?« Die Art, wie Juden die Bibel zitierten, beeindruckte Cullinane immer wieder aufs neue. Jetzt sprach Eliav die Worte aus dem Alten Testament, die so wichtig sind für das Christentum und sein Neues Testament: »>Darum wird euch der HErr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie heißen Immanuel.c«
Cullinane schlug in seiner protestantischen Bibel nach und stellte fest, daß Eliav richtig zitiert hatte. Doch dann forderte Eliav ihn auf: »Und jetzt sehen Sie einmal in der jüdischen Übersetzung nach.« Cullinane fand, daß das Wort Jungfrau mit junge Frau wiedergegeben war.
»Auf welche Quelle geht diese Änderung zurück?« fragte er ziemlich überrascht. »Vergleichen Sie mit dem Originaltext.« Eliav reichte ihm eine hebräische Ausgabe. Im Urtext der Bibel stand das Wort Jungfrau tatsächlich nicht. Schon in frühen christlichen Übersetzungen war aus der »jungen Frau« eine »Jungfrau« geworden - zum Beweis dafür, daß das Alte Testament das Neue vorhersage und das Neue darum das Alte ablösen solle. »Jahrhunderte hindurch«, sagte Eliav, »sind Hunderttausende von Juden verbrannt oder umgebracht worden, weil man ihre Bibel gegen sie mißbraucht hat. Ich glaube, wir haben wirklich ein Recht auf eine genaue jüdische Ausgabe.«
Als Eliav fort war, begann Cullinane mit einer Arbeit, die ihm eine verblüffende Erfahrung einbringen sollte: Er verglich die beiden Ausgaben. Als erstes fand er, daß die neue jüdische Übersetzung dem Deuteronomium seine shakespearehaft dichterische Kraft nahm und dem Leser dafür derbe, oft sogar unbeholfene Formulierungen bot. Die alte und die neue Übersetzung lauteten zum Beispiel so: »Und nun höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich euch lehre, daß ihr sie tun sollt.«
»Höre, o Israel, die Gesetze und Regeln, die ich euch heute
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