Die Quelle
nun schon gewohnten Ablauf auch diesmal kommen werde.
Er ließ deshalb auch nicht die Trompeten blasen, befahl aber die Krieger auf ihre Alarmplätze und schickte Wachen zur Wassermauer, ließ die Tore schließen und stieg dann auf einen der Türme, um die nahende Horde zu beobachten. Zuerst sah er nur die leere Straße, friedlich im Schein der Frühjahrssonne, weiter nach Osten zu aber beschattet von der Flanke des Berges, auf dem der Altar Baals des Allmächtigen stand. Die Straße sah aus wie immer - ein schmaler, steiniger, staubiger Pfad, der sich durch die Landschaft wand. Jetzt erhob sich eine Staubwolke, als fege dort unten eine Brise - die es doch an diesem windstillen Tag gar nicht geben konnte -, über die Straße und künde ein Geschehen von großer Bedeutung an. Uriel erschrak einen Augenblick lang über das Vorzeichen, doch dann erschien ein Esel, gefolgt von zwei braunen, fast nackten Kindern, die um die Wette rannten, offenbar um zu sehen, wer als erster die Stadt entdecken könne. Bei ihrem Anblick brach Uriel in ein befreites Lachen aus.
»Da, seht, das Heer!« rief er. Die Kinder blieben angesichts der mächtigen Mauern und Türme mitten auf der Straße stehen, starrten auf die Stadt und liefen dann zurück, wohl um den Erwachsenen Bescheid zu geben.
Der Statthalter lachte noch, als der erste Hebräer auftauchte, ein hochgewachsener alter Mann in staubigem, grobgewebtem Gewand, der in der Hand einen Stab hielt, sonst nichts. Er hatte einen langen Bart; sein weißes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Sein Gewand war mit einem Strick gegürtet; er trug schwere Sandalen und schritt mit einer Entschlossenheit aus, die auch nicht nachließ, bis er sich dem Haupttor der Stadt näherte. Falls dieser alte Mann von den dicken Mauern ebenso überrascht war wie die Kinder, zeigte er es jedenfalls nicht. Wichtig aber schien dem Statthalter, daß der Alte ebenso wie die ihm folgenden Männer die Bauern auf den Feldern an der Straße überhaupt nicht beachteten. Das war ein gutes Zeichen. Denn wären diese Fremden darauf aus gewesen, die Bauernsiedlungen zu verwüsten, so hätten sie jetzt angefangen.
Immerhin - mit einer so großen Zahl Nomaden, wie sie da jetzt aus dem Osten heranströmte, hatte Uriel nicht gerechnet. Das war nicht eine jener Hebräerfamilien, mit denen er bisher zu tun gehabt hatte. Solche Familien waren manchmal mit vielen Kindern gekommen, bis zu zwanzig, aber noch immer hatte die Stadt sie aufgenommen und auch ohne Schwierigkeiten zur Anbetung der Götter Kanaans bekehren können. Mit denen, die da heranzogen, war das anders. Da kam eine ganze Gruppe von Familien, eine Sippe, fast ein Stamm, und am auffallendsten war nicht die Zahl der Kinder, sondern der Männer im waffenfähigen Alter. Angst freilich hatte der Statthalter nicht, denn er sah, daß die Fremden nur wenig Bronzewaffen besaßen. Bedenklich war jedoch die Ordnung, in der sie anrückten. Sein Sohn hatte recht. Dort kam tatsächlich ein Heer, ob es nun kriegerische Absichten hatte oder nicht. In ernsten Gedanken stieg Uriel vom Turm hinab. Der Brauch der Zeit verlangte vom Herrscher einer Stadt, in seinen Mauern zu bleiben, wenn Fremde sich näherten, und den förmlichen Besuch von Boten abzuwarten, die ihn von dem Vorhaben der draußen Versammelten in Kenntnis setzten. Diesen Nomaden allerdings schien der Brauch nicht vertraut zu sein, denn es kamen keine Abgesandten. Statt ihrer ging der zähe alte Mann, der den Trupp anführte, mit langen Schritten weit vor den anderen allein zum Tor hinauf, schlug mit seinem Stab dagegen und rief: »Tor von Makor, tue dich auf für Zadok, den rechten Arm El-Schaddais!«
Ein sonderbarer Befehl! So etwas hatte man hier noch nie gehört. Wie wollte denn einer die Tore sich auftun lassen ohne Anwendung kriegerischer Gewalt? Auf der Mauer fingen einige Posten an zu lachen. Der Statthalter aber ging zum Tor, blickte durch eine Schießscharte hinaus und vergewisserte sich, daß die Männer, die nun hinter Zadok standen, unbewaffnet waren. »Öffne«, sagte er zum Torhüter. Kaum war die kleine Pforte innerhalb des großen Tores auch nur spaltbreit aufgetan, streckte der alte Mann seinen Stab durch die Öffnung, stieß die Tür auf und schritt kühn hinein, auf den Statthalter zu.
Von den beiden Männern, die einander zum erstenmal gegenüberstanden, war der Hebräer der größere und ältere, nachdenklicher als der andere, dem Geistigen mehr zugewandt, aber auch viel mehr gewöhnt an alle
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