Die Quelle
die beiden Schnüre so anzupeilen, daß sie in einer Linie lagen, sich also deckten, dann mußte er auf den Brunnen stoßen.
Der Moabiter stieß einen Freudenschrei aus, als er Wiedehopfs Einfall begriffen hatte. »Wir schaffen es! Und nachts können wir Lampen unter die Schnüre stellen!
So finden wir unsern Weg im Herzen der Erde, wie dunkel es auch wird.« Voller Bewunderung sah er den Baumeister an, der wie ein Wiedehopf aussah und doch so klug war.
An einem strahlend sonnigen Morgen im Monat Ethanim des zweiten Jahres, als der Sommer sich dem Ende zuneigte, nur noch die großen Flüsse genug Wasser führten und die Menschen auf den Regen warteten, um ihre Felder zu pflügen und den Winterweizen zu säen, trieb Meschab den ersten Eisenmeißel in das Kalkgestein, durch das nun vom Grund des Schachtes aus der leicht zum Brunnen hin abfallende Stollen vorgetrieben werden sollte. Beim ersten Hammerschlag betete Wiedehopf: »Baal, führe uns durch die Dunkelheit«, und oben am Rand des Schachtes betete Kerith: »Jahwe, schenke ihm Erfolg, damit er mich nach Jerusalem bringt.«
Jetzt begann Wiedehopfs Arbeit am Brunnen - die schwierigere Arbeit. Ursprünglich hatte Makor sein Wasser von einer Quelle bekommen, die ungehindert aus der Erde sprang. Im Lauf der Jahrtausende aber hatte sich das Bild entscheidend verändert: Durch den sich häufenden Schutt war das Erdreich um den Rand der Quelle Jahr um Jahr höher geworden, und zugleich hatte sich Jahrhundert um Jahrhundert der Grundwasserspiegel gesenkt, weil ringsum im Land immer mehr Bäume geschlagen worden waren. So war die Quelle immer tiefer gesunken und schon zu der Zeit, als man die ersten Stadtmauern errichtete, zu einem Brunnen geworden, dessen Einfassung man immer höher mit Steinen ummauern mußte. Auch für Wiedehopfs Männer war es selbstverständlich wichtig, die Linie der Fahnenreihe zu halten. Deshalb ließ Wiedehopf zunächst das Dach der Wassermauer abtragen und die Mauer rund um den Brunnen einreißen. Dann wurde der enge Brunnenschacht bis hinunter zur Quelle erweitert. Auf dem Weg hinab entdeckte Wiedehopf eine alte Höhle. Wenn er geahnt hätte, daß sie schon vor mehr als zweihunderttausend
Jahren von Menschen bewohnt gewesen war! Aber selbst zu der Zeit, als sein Vorfahr Ur sich um den Anbau des Weizens Sorgen gemacht hatte, war diese Höhle bereits mehr als zweitausend Jahre verschüttet gewesen und aus der Erinnerung der Menschen geschwunden. Jetzt ließ Wiedehopf sie vollends zumauern, dann ging es weiter hinab bis zum Wasser. Als die Quelle erreicht war, befahl er den Sklaven, rund um das Wasser einen beträchtlichen Raum freizugraben, um Platz für die Arbeit am Stollen zu schaffen; später einmal konnten die Wasserträgerinnen hier ihre Krüge absetzen. Und nun wiederholte Wiedehopf am Brunnenschacht, was er am großen Schacht getan hatte: Quer über die Öffnung ließ er einen Baumstamm legen, genau ausgerichtet nach der Reihe der Fahnen, und dann wurden zwei Schnüre hinabgelassen. Eines jedoch war hier anders: Der Durchmesser dieses ja nur vorübergehend benutzten Schachtes war sehr viel kleiner, und deshalb konnten die Schnüre nicht so weit auseinander hängen: Sie gaben die Richtung nicht so genau an wie die Schnüre im großen Schacht. Das war auch der Grund dafür, daß Wiedehopf selbst die Leitung der Arbeiten an diesem Ende des Tunnels übernommen hatte - hier war die Verantwortung erheblich größer. Acht- oder neunmal am Tag legte er sich auf den Bauch, um die Richtung zu überprüfen. Dann betrachtete er aufmerksam seine Tontafeln, um festzustellen, ob die Sklaven auch die von hier aufwärts führende Schräge einhielten.
Richtung halten und Gefälle beachten - diese beiden Aufgaben gelöst zu haben, davon war Wiedehopf überzeugt. Aber da blieb noch eine womöglich größere Schwierigkeit. Von Anfang an hatte der Baumeister beabsichtigt, den Stollen so anzulegen, daß viele Frauen mit dem Krug auf dem Kopf im Gang hin- und hergehen konnten. Dazu mußte der Stollen etwa fünf Armlängen hoch und mindestens drei Armlängen breit sein. Aber wie geschickt Meschab auch immer nach unten und Wiedehopf vom Brunnen aus nach oben graben mochte - es war fast ein Wunder vonnöten, wenn die beiden großen Stollen genau aufeinandertreffen sollten. »Ich werde dich da unten niemals finden«, seufzte Wiedehopf. »Du gräbst vielleicht in dieser Höhe, und ich auf einer ganz anderen, und wir graben einander vorbei. Und dabei verschwenden
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