Die Quelle
wir Jahre.«
Meschab nickte bejahend: »Wenn wir uns wirklich treffen, ist es reiner Zufall.«
»Aber was wir tun können«, überlegte Wiedehopf, »ist dies: nur kleine Stollen graben, gerade groß genug für den einen Mann, der darin arbeitet. Wir treiben sie so weit vor, bis wir einander durch den Fels hören. Dann stellen wir eine Verbindung zwischen den kleinen Stollen her. Deiner kann getrost über meinem liegen oder daneben - das macht nichts, denn wir können ja zurückgehen und den Gang in der richtigen Größe ausräumen und dabei alle Verbesserungen ausführen.« So war es auch geschehen: Jetzt, im Monat Abib, zu Anfang des dritten Jahres, während der Frühlingsregen auf die Felder fiel und die frische Gerste für die Bierbrauer gesammelt wurde, bohrten Wiedehopfs Männer von beiden Seiten her die kleinen Stollen aufeinander zu, jeden gerade zwei Armlängen hoch und eine Armlänge breit. Jeweils ein Sklave mußte mehrere Stunden in geduckter Haltung arbeiten, wobei er mit dem Schlägel kaum weit genug ausholen konnte. Hatte er eine genügende Menge Gestein ausgehauen, krochen andere Sklaven in den Stollen und schleppten die Steine heraus, bis zum Brunnen oder zum großen Schacht. Dann begann ein neuer Hauer vor dem Gestein mit seiner Arbeit. Und so ging das täglich vierundzwanzig Stunden, denn dort unten schien die Sonne ja doch nicht. Aber jeden Abend, wenn der Sonnenuntergang die Stadt in schimmernde Bronzetöne tauchte, kam der erregendste Augenblick. Die Sklaven zogen sich aus den kleinen Stollen zurück, und nun begann Wiedehopfs und Meschabs Werk: Der Moabiter stieg in den Hauptschacht und kroch mit einem Schlägel in der Faust ans Ende seines Stollens, während Wiedehopf im Brunnenschacht hinabkletterte und sich, ebenfalls mit einem Hammer bewaffnet, zum Ende seines Stollens schob. Auf der Stadtmauer zwischen den beiden Schachteinstiegen stand ein Sklave mit einer weißen Fahne an einer langen Stange. Sobald andere Sklaven an den zwei Einstiegen ihr Zeichen gaben, daß die beiden Männer mit den Hämmern vor Ort waren, winkte der Sklave auf der Mauer feierlich mit seiner Fahne zur Stadt hin. Darauf riefen Sklaven am Hauptschacht in die widerhallende Tiefe: »Meschab, Meschab, du bist dran!« Am Eingang zum Stollen schrien weitere Sklaven: »Meschab, Meschab, du bist dran!« Und am Ende seines Stollens schlug der Moabiter neunmal, langsam und regelmäßig, gegen das Gestein in der Hoffnung, daß irgendwo in der Erde Wiedehopf ihn höre.
Nach dem neunten Schlag rief Meschab zurück, er sei fertig. Die Meldung wurde durch den Schacht weitergegeben, hinauf zu dem Sklaven auf der Mauer. Der winkte jetzt mit der Fahne zum Brunnen hin. Am Schacht dort riefen andere Sklaven: »Wiedehopf, Wiedehopf, du bist dran!« Und im Dunkel seines Stollens schlug der Baumeister neunmal regelmäßig auf den Fels, während Meschab horchte; aber noch immer hatte das Gestein zwischen ihnen den Schall der Schläge verschluckt. Neunmal an jedem Abend führte Wiedehopf, neunmal Meschab seine Hammerschläge. Dann kamen sie wieder an die Oberfläche, um sich zu beraten. Mit Schnüren konnten sie abmessen, wie weit sie dort unten vorgedrungen waren -einmal vom Brunnen her, das andere Mal vom Hauptschacht her, so daß sie ungefähr wußten, wo die Stollen endeten.
Abends nun standen sie bei der Wassermauer und maßen den Zwischenraum ab.
Sie mußten jetzt noch etwa dreißig Armlängen voneinander entfernt sein. Damit näherten sie sich dem Punkt, an dem der Ton durch den Kalkstein dringen sollte. So hofften sie auf den nächsten Abend. Aber selbst wenn sie einander wieder nicht gehört hatten, fühlten sie sich doch immer mehr bestärkt in der Gewißheit, daß sie auf dem richtigen Weg waren. Denn ihre Arbeit war zugleich ein Handeln aus dem Glauben, und wie dieser Glaube sie in den ersten zwei Jahren angefeuert hatte, so ließ er sie auch jetzt jeden Morgen mit frischem Mut zu ihren Stollen gehen. Vielleicht war heute der Tag, an dem sie den ersten Ton hören konnten! Als aber der Monat Abib verging und der Ziw begann, regten sich bei Wiedehopf und Meschab Zweifel, denn noch immer war kein Hammerschlag zu hören gewesen. Hatten sie etwas falsch gemacht? Waren sie zu weit voneinander entfernt? War der Höhenunterschied so groß, daß sie um ein beträchtliches Stück aneinander vorbei gruben?
Geduldig begannen sie ihre Arbeit von Anfang an zu überprüfen, jede mögliche Quelle eines Irrtums zogen sie ehrlichen Herzens in
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