Die Quelle
glücklich. Meschab eilte auf Wiedehopf zu und umarmte ihn als seinen Bruder. Laut rief der Statthalter in Wiedehopfs Haus: »Kerith, komm und grüße den Sieger!« Sie erschien in einem leuchtend blauen Gewand, das ihr Mann aus Akcho mitgebracht hatte (dorthin war es aus Griechenland gelangt), und um den Hals trug sie die Glaskette. Herzlich küßte sie ihren Gatten. Der aber sagte ihr: »Du mußt auch meinen Bruder Meschab küssen, der heute ein freier Mann geworden ist.« Kerith küßte den einstigen Sklaven feierlich, und Meschab biß sich auf die Lippen, um nicht zu zittern oder gar Tränen zu zeigen. Er ergriff die Hände der beiden guten Freunde und sagte: »Ihr seid wirklich meine Verwandten.«
Zu Wiedehopf sagte der Statthalter: »Ab morgen zahlen wir ihm Lohn«, dann aber wandte er sich Meschab zu: »Warum läßt du dich nicht beschneiden und wirst einer der Unsrigen?« Dabei zeigte er auf den Tempel. Die Bewegung war mehr als eine leere Geste, denn seine Hand wies zugleich auf die vielen Angehörigen so vieler Völker, die nach Makor gekommen und in der hebräischen Bevölkerung aufgegangen waren: Männer aus Zypern, die sich hatten beschneiden lassen, um Mädchen aus der Stadt zu heiraten; Hethiter, die nach Jahren der Sklaverei hier eine neue Heimat gefunden hatten; babylonische Flüchtlinge; kluge Ägypter, die mit ihren Familien hiergeblieben waren, als ihr Reich zusammenbrach; dunkelhäutige Afrikaner und rothaarige Edomiter. Alle waren sie jetzt rechtmäßige Hebräer, und es gab keinen Grund, warum Meschab sich ihnen nicht anschließen sollte.
Ergriffen küßte Meschab die Hand des Statthalters: »Ich habe die Größe Jahwes gesehen. Aber ich bin ein Mann Baals.«
»Du kannst beides sein«, erinnerte ihn der Statthalter und sprach von den ausländischen Frauen der königlichen Familie, die nicht nur die Erlaubnis hatten, ihren alten Göttern zu dienen, sondern sogar dazu ermuntert wurden. »In Jerusalem gibt es viele Tempel für Götter der Ägypter und Philister. Warum soll es hier anders sein?« Er deutete auf den Berg und schloß: »Baal wird für dich hierbleiben.«
Meschab neigte den Kopf. »Ich gehöre dem Baal der Moabiter.« Der Statthalter versuchte nicht, ihn weiter zu drängen. Kerith sah Meschab voll Bewunderung an, als der Statthalter ihn zu seiner Freilassung beglückwünschte. Auf seinem Heimweg ging der Statthalter noch einmal am Tempel vorbei. Dort standen noch immer die drei Bluträcher. Es ist eigentlich nicht nötig, dachte er, Posten zum Schutz des Tempels aufzustellen, denn das heilige Recht der Freistatt ist seit Jahrhunderten nicht mehr verletzt worden.
Er sollte sich nicht getäuscht haben. Die Brüder des Erschlagenen hielten sich an den Brauch. Und nach wenigen Tagen des Wartens, wie die Sitte der Blutrache sie vorschrieb, stiegen sie auf ihre Esel und ritten heimwärts, wie der Totschläger es vorausgesagt hatte.
Doch bis dies geschah, blieb der Flüchtling im Tempel Gegenstand der allgemeinen Anteilnahme, denn seit Generationen hatte kein Totschläger mehr Zuflucht in der Stadt gesucht. Wasser zum Trinken und Waschen mußten ihm die Leviten geben, die den Tempeldienst versahen, und sie hatten auch dafür zu sorgen, daß er seine Notdurft verrichten konnte, indem sie ihm Tonkrüge bereitstellten. Die Bürger jedoch mußten ihn ernähren. Die Kinder baten ihre Mütter, dem Fremden Speise bringen zu dürfen. Wenn der im Tempel Gefangene gegessen hatte, blieben die Kinder und hörten ihm zu, wie er seine Leier stimmte und alte Lieder von den Bergen sang und neue, die er selbst ersonnen hatte, als er die Schafe in den Tälern hütete:
»Ich singe Jahwe einen neuen Gesang,
Ein Lied von den Bergen,
Von denen Befreiung mir kommt,
Von denen mein Heil mir kommt Und meine Hilfe.«
Die Kinder staunten, daß aus einem so schwachen Körper eine so starke Stimme kam; sie holten ihre Eltern herbei, damit auch sie ihn hörten. Und die Erwachsenen sahen, was die Kinder nicht bemerkt hatten: Wie leidenschaftlich seine Lieder auch wurden - immer hielt er sich nahe genug dem Altar, so daß er sofort die Hörner umfassen konnte, falls die Bluträcher plötzlich in den Tempel stürzten, um ihn in einem Augenblick der Unachtsamkeit zu ergreifen.
Am dritten Tag war die Reihe an Wiedehopfs Haus, den Totschläger mit Speise zu versorgen. Da Wiedehopf im Stollen beschäftigt war, brachte Kerith das Essen selbst in den Tempel. Hier hörte sie zum erstenmal den Sänger von den Bergen. Er
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