Die Quelle
warten«, wiederholten die Brüder. »Nicht hier«, befahl der Statthalter. »Wir gehen hinaus.«
»Und bleibt in einem Abstand von fünfzig Ellen. König David hat das Gesetz gegeben, nicht ich.«
Die drei Brüder versicherten, sich an die Weisung zu halten, und verließen den Tempel, ohne sich noch einmal nach dem umzusehen, der ihren Bruder erschlagen hatte. Als sie gegangen waren, fragte der Statthalter den Fremden, welches Verbrechen er denn begangen habe. Der Mann mit der Leier antwortete gleichgültig: »Streit. um nichts.«
»Darum hast du einen Menschen getötet?«
Der Kniende ließ den Altar mit einer Hand los und deutete auf eine lange, bläulichrote Wunde an seinem Hals, die noch nicht geheilt war. »Deshalb habe ich einen Menschen getötet.«
»Was willst du jetzt tun?« fragte der Statthalter und deutete hinaus, wo die drei Rächer vor dem Tempel standen. Sie hatten sich die vorgeschriebenen fünfzig Ellen weit zurückgezogen und baten die Stadtbewohner um Wasser. »Sie sind heißblütig«, sagte der Totschläger. »Wenn sie mich jetzt kriegen, bringen sie mich um. In drei Tagen werden sie einsehen, wie albern das alles ist, und fortgehen.«
»Bist du dessen so sicher?«
»Sie haben es gesehen, wie ihr Bruder mich erstechen wollte. Vielleicht sind sie sogar froh, daß ich hier Schutz gefunden habe. Das gibt ihnen die Entschuldigung, die sie brauchen.«
Der Statthalter staunte, wie gefühllos dieser erschöpfte Mann war. Zweifelhaft, wie ihm die ganze Sache erschien, stellte er vier Posten vor dem Tempel auf und befahl ihnen, das Leben des Fremden zu beschützen, solange er ein Horn des Altars fassen könne. Es war dies ein Brauch, den die Hebräer aus der Wüste mitgebracht hatten, als sie in besiedeltes Land zogen. Erbitterte Kämpfe und Blutfehden hatten seit Generationen zwischen den Stämmen gewütet, und viele Männer waren ihnen zum Opfer gefallen, die man als Hirten und Familienväter so dringend benötigte. Schon Mose selbst hatte im Gesetz bestimmt, daß drei Städte als Zufluchtsstätten
dienen sollten für jeden, »der einen Totschlag getan hat, nicht vorsätzlich, und hat vorher keinen Haß auf ihn gehabt«. Aber bisher war in dieser Hinsicht nichts geschehen. Wohl aber fand ein Totschläger überall Schutz, sofern es ihm gelang, die
Hörner des Altars zu umfassen, wie es Gerschom jetzt tat.
»Gebt ihm zu essen«, befahl der Statthalter den Wachen. Gerade wollte er die Brüder über die Geschichte des
Flüchtigen befragen, als man Schreie von der nördlichen
Stadtmauer hörte und aufgeregte Menschen zum Haus des Statthalters liefen. »Was ist geschehen?« rief er. Schon von weitem riefen die Boten: »Die Stollen sind
aufeinandergetroffen!«
Der Statthalter eilte zum Hauptschacht. Eifrige Hände wollten ihm die Stufen hinabhelfen, aber ihm genügte die Nachricht. Und nach einer Weile kletterte freudig erregt Meschab der Moabiter heraus. Der Statthalter reichte ihm die Hand: »Wiedehopf hat mir gesagt, daß du ein freier Mann bist, wenn.«
»Ich bin es.«
»Kehrst du nach Moab zurück?«
»Ich habe Wiedehopf versprochen, ihm beim Ausbau des Stollens zu helfen.«
»Das wird ihn freuen. Wie habt ihr euch dort unten getroffen?« Meschab hob seine Hände und näherte langsam seine Zeigefinger einander. Auch ohne ein Wort war die Geste lebendig genug - der Statthalter konnte sich das blinde Tasten dort unten vorstellen. »Hier konnten wir die andere Seite hören. Wiedehopfs Stollen war etwas schief, aber auf der richtigen Höhe. Meiner war etwas zu hoch.« Er brachte die Fingerspitzen zusammen, nicht ganz genau, sondern so, daß er seinen Stollen als den etwas höher liegenden und Wiedehopfs als den ein wenig schräg nach Norden gerichteten zeigte. »Wir haben Glück gehabt«, sagte der Statthalter.
»Wiedehopf hat es fertiggebracht«, erwiderte der Moabiter, und der Statthalter merkte ihm an, daß dies keine Schmeichelei war.
»Was tun wir jetzt?« fragte er. Während der Monate, in denen es aussah, als werde das ganze Unternehmen mißlingen, hatte er sich kaum um die Arbeiten gekümmert. Jetzt aber, im Augenblick des Erfolges, war er schlau genug zu sehen, daß er damit die Aufmerksamkeit Jerusalems auf sich lenken konnte. Von nun an hieß es »unser« Stollen.
»Der Rest ist leicht«, sagte der Moabiter, aber noch ehe er es erklären konnte, kam Wiedehopf durch das Brunnentor, schmutzig und
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