Die Quelle
Aber da fiel ihm ein - er wußte selbst nicht warum -, daß Wiedehopf vielleicht von
Amrams Verhältnis mit seiner Frau gewußt hatte. War der kleine Baumeister, nachdem er die Mauer vollendet hatte, so darauf ausgewesen, einen neuen Auftrag zu erhalten, daß er jedes Joch auf sich nahm, nur um die Genehmigung zu bekommen? Wenn Kerith diese Genehmigung für ihn nur dadurch erhielt, daß sie sich mit dem Feldherrn einließ, so mußte Wiedehopf eben auch dieses Joch tragen. Meschab sah seinen Freund nachdenklich an. Ob er wohl freiwillig jeden Nachmittag losgezogen war, weil Amram es so gewollt hatte?
Zu seiner Überraschung gab Wiedehopf selbst die Antwort: »Dachtest du, ich habe nicht gewußt, daß der Feldherr Amram mich zum Narren halten wollte? >Geh hierhin, Wiedehopf, geh dorthin, Wiedehopf.< Und dachtest du, während ich die nutzlosen Gänge machte, hat meine Frau sich ihm hingegeben? Du kennst Kerith so lange und weißt immer noch nicht, daß sie anständig ist wie keine andere?« Verletzt von Meschabs Worten wandte er sich ab, drehte sich aber sofort wieder um, packte Meschabs Arm und sagte voller Verachtung: »An dem Tag, als Amram nach Makor kam, gab es eines, was ich wollte: diesen Stollen. Und ich bekam ihn. Aber da war noch eines, was er wollte. Und er war niemals auch nur nahe daran, es zu bekommen. Wer also war damals der Narr?« Meschab schwieg.
In diesem Augenblick verließ Kerith den Weinladen, zum drittenmal an diesem Tag. Und was sie noch nie gewagt hatte, heute tat sie es: Sie blieb vor Gerschom stehen und sprach mit ihm, zum erstenmal auf offener Straße. »Wo hast du deine Lieder gelernt?« fragte sie. »Einige habe ich geschrieben.«
»Und die anderen?«
»Sind alte Lieder meines Volkes.«
»Wer ist dein Volk?«
»Levitische Wanderer.«
»Die Geschichte von deiner Wunde stimmt nicht, oder?«
»Ich habe die Wunde«, antwortete er. Da hatte Kerith nur einen Wunsch: allein mit ihm zu sein und seine Wunde mit kühlem Wasser zu waschen. Meschab aber war völlig im Unrecht, wenn er glaubte, sie liebe den Fremden körperlich; sie war nicht geblendet von dem Dichter und Sänger, sondern gefangengenommen von dem, was dieser Mann im Lied auszudrücken vermochte: die fromme Sehnsucht aller
Menschen. Ihr war es, als singe er nur für sie. »Darf ich fragen, wie du die Wunde bekommen hast?« fragte sie. »Du darfst.«
»Würdest du in meinem Haus singen? Mein Mann kommt bald.«
»Gern«, antwortete er. Am liebsten hätte Kerith die Hand des Sängers ergriffen und ihn durch die Straßen geführt. Sie ließ es, und so folgte er ihr unauffällig. Als sie beim Schacht angelangt war, fragte sie einen Sklaven: »Sieh nach, ob Jabaal kommen kann.« Der Mann antwortete: »Er ist jetzt unten und spricht mit Meschab.« Daraufhin ging sie bis zum Rand und rief in das tiefe Loch, wo ihre Stimme sanft zwischen den senkrechten Felswänden widerhallte: »Wiedehopf, Wiedehopf! Wiedehopf!«, bis der Klang erlosch. Zum erstenmal hatte sie in der Öffentlichkeit diesen Namen gebraucht.
In den nächsten Wochen kam Gerschom oft in das Haus des Baumeisters, meist, wenn auch Wiedehopf da war, manchmal, wenn nur Kerith ihm zuhören konnte. Er war ein innerlich starker und doch stiller Mann, der nicht sehr offen über sich selbst sprach. Sein Zeugnis von Jahwe aber war unzweideutig. In den Bergen hatte er ein tiefes Erlebnis mit seinem Gott gehabt, das alle seine menschlichen Erfahrungen als nichtig erscheinen ließ. Seine Frau und der Mann, den er getötet hatte, waren nahezu vergessen; diese Ereignisse betrafen ihn nicht mehr, ebensowenig wie das Leben seiner Eltern und seiner Brüder. In den Liedern jedoch war das alles eingeschlossen und zugleich verschwunden. Sogar Wiedehopf und Meschab hörten mit der Zeit dem Fremden gern zu und saßen abends lange gebannt, wenn er ihnen zur Leier von der Wirklichkeit Jahwes sang:
»Er ist im Wimmern des Lamms, das ich suche bei Nacht,
Höret, Er ist im Stampfen des wilden Stiers.«
Nachdem Gerschom einige Wochen gesungen hatte, während der unterirdische Gang fertig wurde, waren alle in Wiedehopfs Haus bereit, ihn als den zu nehmen, für den er sich ausgab: als einen Mann, der alles von sich geworfen hatte außer dem Einen Jahwe.
Die drei Menschen in Wiedehopfs Haus nahmen die Lieder mit dreifach verschiedenem Verständnis auf. Der Moabiter hörte die Worte von Jahwe nicht anders als ein Lied der Philister über Dagon oder einen babylonischen Gesang von
Weitere Kostenlose Bücher