Die Quelle
auf den Dächern. Nach einiger Zeit sah man Männer auf Eseln daherreiten, dann einige auf Pferden. Ihnen folgte eine Sänfte, getragen von Sklaven und umgeben von zahlreichen Würdenträgern. Kein Zweifel: In dieser Sänfte mußte der König sitzen.
Der Zug näherte sich dem Haupttor. Die Eselsreiter gaben Trompetensignale, die von der Mauer herab beantwortet wurden. Langsam trugen die Sklaven die Sänfte des Königs in die Stadt und setzten sie behutsam vor dem Haus des Statthalters ab. Immer noch Trompetengeschmetter. Und dann teilten sich die Vorhänge. Aber man sah nicht König David, sondern eine wunderschöne junge Frau. »Es ist Abisag«, flüsterten die Mädchen und Frauen von Makor. Alle sahen mit Staunen auf sie, als sie vortrat, um dem Statthalter für seine Begrüßung zu danken.
Abisag, das Wunder der letzten Lebensjahre König Davids, ein Bauernmädchen aus der kleinen abgelegenen Stadt Sunem: Das ganze Land hatte man nach einem zarten Mädchen durchforscht, das geeignet war, den hochbetagten König »zu pflegen und in seinen Armen zu schlafen und unseren Herrn zu wärmen«, wie die Ratgeber erklärt hatten. So schwierig die Suche auch gewesen war, sie hatten das vollkommene Mädchen gefunden, die Jungfrau Abisag, die dem König mit Hingabe diente und ihn seine letzten Jahre leichter tragen ließ. Bald allerdings, nach König Davids Tod, sollte es Streit zwischen seinen Söhnen um diese strahlende Schönheit und um das Reich geben: Gleich nachdem Salomo den Thron bestiegen hatte, ließ er seinen Halbbruder Adonia, der die schönste Frau Israels und die Herrschaft zugleich begehrte, töten.
Jetzt streckte Abisag ihre Hand in die Sänfte und reichte sie einem schwachen, alten Mann von nahezu siebzig Jahren. Weiß war sein Bart, und seine Hände zitterten. Wie ein Kind mußte Abisag ihn vor seine Untertanen führen. Verwundert flüsterte Kerith: »Das soll David sein?« Aber als dann der alte Mann den begeisterten Schrei der Menge: »David! David!« hörte, richtete er sich auf, ließ Abisags Hand los und nickte dem Volk zu. Nein - es gab keinen Zweifel, wer hier König war. Strahlend leuchteten seine Augen aus den tiefen Höhlen, die Sonne ließ im weißen Bart einige Strähnen rot wie in seinen Jugendjahren aufflammen, und seine Schultern warfen die Bürde des Alters ab. Während vierzig Trompeten schmetterten und die Trommeln dröhnten, wurde der alte Mann wieder David, der Goliath erschlagen hatte, der große König, der das Reich geschaffen und vergrößert hatte, der Sänger Israels, der Weise, der Richter, der Großmütige, der David der Hebräer - ein König ohnegleichen in der ganzen Welt. Kerith starrte ihn an. Dieser König - oh, er war mehr als ein König. Sie sah, daß sein Bart gekräuselt und sein Gewand sorgfältig in Falten gelegt war (denn David war eitel). Er trug schwere Sandalen mit goldenen Riemen, das Gewand war mit Gold und Smaragden besetzt, eine Brokatkappe bedeckte das weiße Haar. David schritt so erhaben, so edel durch die Menge, daß sich kein Mensch hätte vorstellen können, was dieser alte Mann in seiner Leidenschaft einst getan hatte, um Michal, die Tochter König Sauls, oder Bathseba, das Weib des Hethiters Uria, zu gewinnen. Aber das war nun ebenso nur noch schmerzliche Erinnerung geworden wie seine innige
Freundschaft mit Jonathan, dem Sohn Sauls: Die Feuer der Jugend - man sah es dem König an - waren längst erloschen. Und dann legte David seine Hand wieder in die Abisags. Der letzte Trompetenstoß verklang, die Trommeln schwiegen. Still ließ er sich von ihr fortführen, er hörte nichts mehr und sah nichts mehr, war abgeschieden von der Welt, die er aufgebaut hatte. »Er übergibt die Herrschaft Salomo«, flüsterte ein Phönizier. »Es verlangt ihn nicht mehr nach der Macht dieser Erde.« Für Kerith bedeutete es einen Augenblick tiefen Schmerzes, den alten König so sehen zu müssen. Sie kniete vor ihm nieder, ergriff seine Hand und rief: »Einst hast du für uns auf der Straße getanzt, als du die Lade des Bundes nach Jerusalem brachtest.« Er blickte sie an, und für kurze Zeit kehrte das Feuer in seine Augen zurück. Dann lächelte er und sagte: »Das ist lange her.«
Kerith blickte auf zu dem müden, blassen Gesicht. Fast wollte es scheinen, als habe der König seine Lebenskraft eingebüßt. Später jedoch, im Haus des Statthalters, mußte sie erkennen, wie sehr sie sich getäuscht hatte. Denn als der König sich seines Mantels entledigt hatte und
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