Die Quelle
daß du ein guter Sänger bist«, erwiderte David. Er übergab dem jungen Mann die Leier und blickte ihn wartend an. Gerschom nahm einen Schluck Wein, spülte sich damit den Mund und spuckte auf die Straße. Dann deutete er auf einen halbzerbrochenen Stuhl, den Abisag sofort herbeitrug. Ohne Kerith oder die Schöne des Königs auch nur zu beachten, setzte sich Gerschom auf einen Berg unausgekämmter Wolle. Es dauerte eine Weile, bis er die Leier gestimmt hatte. Ganz still war es. Vor der Tür stauten sich die Menschen auf der Straße. Der Statthalter bedeutete ihnen, ruhig zu sein. In diesem Augenblick völliger Ruhe sagte Kerith: »Sing vom Lamm und vom Stier.« Gerschom sah sie überrascht an, als sei sie ihm fremd. Der König fragte: »Ist es ein schönes Lied?«
»Es ist eines, das Euch gefallen wird«, antwortete Kerith. König David nickte. Gerschom hatte nun seine Leier gestimmt. Zunächst präludierte er ein wenig, bis er plötzlich einige entschlossene, befehlerisch klingende Akkorde anschlug, die dem König zu gefallen schienen. Dann sang er mit mächtiger Stimme:
»Oh, wer unter uns kann von Ihm sprechen?
Wer kennt Seine geheimnisvollen Wege?
Er ist im Wimmern des Lamms, das ich suche bei Nacht,
Höret, Er ist im Stampfen des wilden Stiers.«
Die Weise, von dem Sehnsuchtsschrei am Anfang überwechselnd zu dem schlichten Bild des bei Nacht Suchenden und dann zu dem kräftigen Bild des Stiers, gefiel dem König; in den Stuhl zurückgelehnt, lauschte er der Kunst des jungen Mannes. Nachdem dieser länger als eine Stunde gesungen hatte, nahm der alte König selbst die Leier in die Hand. Seine Finger glitten über die Saiten, aber er wagte nicht zu singen. Tränen traten ihm in die Augen. Sinnend blieb er eine Weile mit der Leier in der Hand sitzen, bis Abisag ruhig sagte: »Nun müssen wir gehen.« Der König folgte ihr wie ein gehorsames Kind.
An diesem Abend hörte man Gesang im Haus des Statthalters. Es war das erste Mal, daß Gerschom hierher geladen war. Auch an den folgenden Tagen bat der König den jungen Mann öfter, vor ihm zu singen. Und dann war es soweit, daß David selbst zur Leier griff und einige der unvergänglichen Lieder sang, die er in jungen Jahren zum Preise Jahwes gedichtet hatte - damals, als man ihn den »süßen Sänger Israels« nannte. Viele Stunden sangen die beiden Psalmisten miteinander. Am vierten Tag - David hatte vom Stollen immer noch nicht mehr gesehen als den Zugang zum Schacht - sagte der König: »Wenn ich nach Jerusalem zurückkehre, wird dieser hier mich begleiten.« Dabei legte er den Arm um Gerschom wie um einen Sohn.
Kerith saß dabei, als König David diesen Befehl gab. Seine Worte trafen sie wie ein Schlag. Seitdem der König in Makor weilte, war ihr dies mehrfach widerfahren: Sie war Zeuge der Demütigung ihres Mannes geworden, sie hatte mit ansehen müssen, wie wenig der König vom Graben eines Stollens hielt. Sie hatte aber auch erlebt, mit welch klarem Urteil er Gerschom als den einzigen Menschen in Makor auswählte, der es wert war, nach Jerusalem berufen zu werden. Alles, was König David getan hatte, ließ ihr den ganzen Gegensatz zwischen der aus dem Geistigen kommenden Weisheit Jerusalems und der nüchternen Alltäglichkeit Makors bewußt werden. Denn ohne es zu wissen, hatte der König so gehandelt, als wolle er Keriths Ahnungen recht geben. Die Zeit der Zweifel, wie sie sie befallen hatten, nachdem der Feldherr
Amram Makor verlassen hatte, die Zeit, da Jabaal und Meschab ihre Gedanken von Jerusalem hatten abbringen können, war vergessen. Durch König David und Gerschom fühlte sie sich bestärkt: Nie mehr sollte sie ein Mensch von dem ablenken können, was sie seit langem als das Richtige erkannt hatte. Kerith war bereit, den entscheidenden Schritt zu tun, der sie in die Stadt Davids führen sollte.
Ohne Scheu folgte sie Gerschom, nachdem König David ihn gnädig entlassen hatte, in den Schuppen. An der Tür sagte sie ruhig: »Wenn du mit dem König nach Jerusalem gehst, dann gehe ich mit dir.«
Er wollte gerade seine Leier auf einen Wollhaufen werfen. Ohne sich dabei stören zu lassen und ohne sie anzusehen, antwortete er: »Und ich will dich.«
»Heute abend bin ich hier«, sagte sie. Aber selbst nach diesen Worten hatten die beiden nicht den Mut, sich zu umarmen.
Langsam und in Gedanken ging Kerith ihrem Haus zu. Wie konnte sie ihrem Mann begreiflich machen, was sie vorhatte? Aber als sie das Haus am Schacht betrat, sagte sie schlicht:
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