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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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Jahrhundert, in dem sie zuerst ihrem Vater gehorsam gewesen war, dann sich einem schlechten Mann gefügt hatte und nun für ihren schönen Sohn sorgte. Sie sprach ruhig, als lebe sie noch draußen auf dem Acker, in einer Hütte mit ihrem Vater, während er die Gerste und die Reben bewachte. In ihrem langen Leben waren das die einzigen Tage gewesen, an die sie gerne zurückdachte, jene glücklichen Tage der Ernte, wenn die Männer Hütten bauten, um dem Ertrag ihrer Felder nahe zu sein.
    Jetzt, im Jahre 606 v. Chr. in den Tagen vor Beginn des Monats der Feste Ethanim - als die Hitze von der Wüste her sich über das Land breitete, als die späten Trauben für die
    Kelter reiften, als Ägypter und Babylonier Vorbereitungen trafen, sich gegenseitig zu zerfleischen -, verließ Gomer ihr ärmliches Haus am Nordtor, einen Tonkrug auf dem Kopf, und stieg in den Brunnenschacht, dessen Zugang sich nicht weit von ihrem Haus öffnete. Sie war mit Abstand die älteste Frau, die Wasser holte. Ihre lange, dürre Gestalt, in zerlumptes Sackleinen gehüllt, paßte so gar nicht zu den jungen Frauen und Sklavinnen, die dort die vertrauten Stufen hinabstiegen. Aber da sie weder eine Sklavin noch eine Schwiegertochter hatte, die ihr helfen konnte, war sie gezwungen, das Wasser selbst zu holen. Sie hatte am Brunnen ihren Krug gefüllt und machte sich auf den Rückweg. Als sie im Davidsstollen an eine besonders dunkle Stelle kam - die Öllampe, die über dem Wasser hing, war nicht mehr zu sehen, und das durch den Schacht einfallende Tageslicht reichte kaum bis hierher -, hörte sie plötzlich eine Stimme, die zu ihr sagte: »Gomer, Witwe von Israel! Führe deinen Sohn hinauf nach Jerusalem, auf daß er seine Augen auf Meine Stadt richte.« Sie blickte umher, um den zu finden, der da gesprochen hatte. Aber nur Dunkelheit war um sie. Schon meinte sie, eine der jüngeren Frauen habe sich versteckt, um sie zu verspotten, denn sie machten sich oft über sie lustig. Aber schon ertönte die Stimme noch einmal, und nun war sie sicher, daß keine der Frauen sie geneckt hatte. Die Stimme sagte: »Gomer, laß deinen Sohn Jerusalem sehen!«
    Nicht in Furcht, aber in Verwirrung verließ Gomer den Stollen und stieg den Schacht empor. Sie überhörte die Zurufe jüngerer Frauen, die auf den anderen Stufen hinabstiegen. In einer Art von Verzückung trieb es sie, ihren Sohn zu suchen. Doch der war bereits zur Olivenpresse gegangen. So setzte sie ihren Krug nieder, eilte zum Haupttor, überquerte die Straße nach Damaskus und trat in den Olivenhain, der dem Statthalter Jeremoth gehörte. Bald schon sah sie Rimmon an der Presse, an diesen uralten übereinanderliegenden Steinwannen, die in den harten Fels gemeißelt und untereinander verbunden waren, so daß das Öl abfließen und sich durch das eigene Gewicht filtern konnte. Einen Augenblick lang blieb sie stehen, denn ihr Sohn kniete neben der Presse. Aber da gewahrte sie, daß er sein Morgengebet sprach - zu Baal, den er um guten Ertrag bat. Sie wartete, bis er fertig war, völlig verstört darüber, daß Rimmon gerade an diesem Morgen mit Baal umging. Dann trat sie zu ihm.
    Wie immer, wenn sie, wie eben jetzt, dem Sohn gegenüberstand, ging ihr das Herz auf vor dem, was sie nur sein Strahlen nennen konnte: Wie viele Hebräer war er blond und sommersprossig, hochgewachsen und von rascher Auffassungsgabe. Als der Sohn einer Witwe war er bettelarm; sein ganzes Leben hatte er auf den Feldern gearbeitet und konnte weder lesen noch schreiben. Aber er hatte von seiner Mutter die treu bewahrten Geschichten seines Volkes gelernt, besonders alle die Zeichen und Wunder, mit denen Jahwe sich den Hebräern offenbart hatte. Zweiundzwanzig Jahre war er nun alt, ein Arbeiter in dem einzigen Erwerbszweig, der Geld nach Makor brachte, und ein frommer junger Mann, der zu Jahwe betete um das rechte Leben nach dem Gesetz der Väter und zu Baal für das Gelingen seiner täglichen Arbeit.
    Unter den fruchtbeladenen Bäumen fragte Gomer: »Rimmon, hast du die Absicht, nach Jerusalem zu gehen?«
    »Nein.«
    »Hast du jemals dorthin gewollt?«
    »Nein.«
    Daraufhin schwieg Gomer und kehrte heim zu ihren alltäglichen Sorgen. Sie versuchte, ein paar Stückchen Fleisch zu borgen, um eine Linsensuppe als Abendmahlzeit zu kochen für ihren Sohn, wenn er hungrig von der Arbeit kam. Aber Fleisch war knapp wie alle Nahrungsmittel. So ging sie um
    Mittag die Hauptstraße entlang zum Haus des Statthalters Jeremoth; dort bat sie die

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